Christiane Drese
Kantorin der Kirchengemeinde St. Georgen und Leiterin der Georgen-Singschule in Waren (Müritz)
Interview in Waren (Müritz) im Mai 2024
Kantorin und Chorleiterin – war es Ihr Wunsch-Beruf? Was macht er für Sie aus? Ist er für Sie (auch) eine Berufung?
Meine Kindheit verbrachte ich in der Oberlausitz, unweit Herrnhuts, das mit seinen Singstunden und dem großen Bläserchor wie ein gemeindliches Musikmekka ganz für sich stand und damit aber auch gleichzeitig in die Umgebung strahlte. Für mich war das Singen und Musizieren von klein auf immer ein besonderer, auch mit geistiger Freiheit verbundener Rückzugsort – zumal in der ehemaligen DDR. Hierhin konnte ich flüchten, hier konnte ich mich aber gleichzeitig auch entfalten. In der Musik fühlte ich mich beschützt und aufgehoben, war im Kinder- und später im Jugendchor umgeben von Gleichgesinnten, fühlte mich durch unseren Kantor gefördert und am Klavier ganz in meinem Element. Das war meine Welt. Warum sollte ich sie gegen eine andere eintauschen?
Also habe ich schon in der 5. Klasse als Berufswunsch Kantorin angegeben, was seitens der Schule auf Irritation stieß und mehr oder minder missbilligende Rückfragen zur Folge hatte. Aber ich blieb unbeirrt dabei, zunächst mit dem Klavierunterricht in der Musikschule, ausgleichendem, sehr motivierendem, privatem Flötenunterricht und natürlich im Kinderchor in der Gemeinde, der gerade von unserem Kantorkatecheten Johannes Eisner für unsere Doppelgemeinde Strahwalde–Ruppersdorf mit viel Enthusiasmus aufgebaut wurde. Er hat mich in meinem Verständnis und meiner Herangehensweise an den musikalischen Umgang mit Kindern sehr geprägt.
Angefangen haben wir im Kinderchor übrigens zu zweit – sozusagen im Kinderchor-Duett: »O Herr, wenn ich ein Schmetterling wär´« … Wir wurden aber sehr schnell größer, fuhren konzertierend durch die Lande und sangen erste Kinderchorkantaten. Die Chorproben waren die schönsten Stunden in der Woche.
Von dort aus war es dann rückblickend ein vielfältiger, aber zugleich sehr direkter Weg zum Studium – und schließlich bis hierher ins Hier und Heute.
Ob es eine Berufung war? Nun: dieser Begriff ist mir etwas zu theatral und fremd. Aber wenn ich rückblickend sehe und fortlaufend spüre, wie ich mit den Dingen, die ich tue, wachse, dann weiß ich doch sehr genau: Das ist mein Weg. Dass es zwischendurch immer wieder einmal Zweifel gab, vermeintliche Rückschritte oder ungeplanten Stillstand: ja – aber auch das gehört ja zum Wachsen dazu und bestärkt mich zu sagen: Ja. Immer wieder.
Was waren Ihre Ambitionen beim Berufseinstieg?
Hatten Sie das Ziel, aktiv pädagogisch zu arbeiten, von Anfang an?
Ich komme vom Tastenspiel und habe immer gern in Chören gesungen. Aber ich habe mir anfangs nicht vorstellen können, auch einen Chor zu leiten – also das fordernde, fördernde, motivierende, lenkende Gegenüber zu sein. So habe ich diese Arbeit wahrgenommen. Mitmachen: Ja. Immer. Aber hervortreten, mich aktiv positionieren, das war mir eigentlich fremd. Da waren die Tasten viel einfacher. Hier konnte ich ganz aus mir selbst heraus agieren und wusste genau, was ich geprobt hatte und konnte – und was nicht. Am solistischen Hervortreten wäre von mir aus auch beinahe meine Aufnahmeprüfung an der Hochschule in Dresden gescheitert – es schien mir unmöglich, dort vorzusingen, nur hinter dem Vorhang. Das Vorspiel war kein Problem. Also brauchte ich viele Nerven – und hatte sie glücklicherweise auch.
Es war nicht so, dass es mich schon früh beglückt hat, etwas zu initiieren, durch Musik etwas Besonderes in und zwischen den Menschen zum Schwingen zu bringen. Mir schien das zunächst instrumental viel sicherer. Ich musste mich da nicht so zeigen, nicht so weit aus meiner Komfortzone treten. Aber der Wunsch, dieses unbeschreiblich schöne Gefühl des In-Verbindung-mit-sich-und-der Welt-sein durch gemeinsames Musizieren zu vermitteln, wurde immer stärker. Prägend dabei wurden für mich erste gute Erfahrungen bei Annegret Stier, damals Kantorin in Löbau, bei der ich meinen ersten Orgelunterricht hatte und im Jugendchor sang.
Dass ich es tatsächlich auch sängerisch-musikalisch tiefgründig vermitteln möchte, habe ich so richtig erst im Laufe meiner Arbeit entdeckt. Erstmal wurde aus der Freude an der Musik viel Arbeit, und ich stand öfter vor der Frage: Was ist das für ein Studium – es muss alles immer besser, immer professioneller werden … dabei habe ich mir selbst auch viel Stress gemacht, weil ich wirklich richtig gut sein wollte. Glücklicherweise hatte ich auch hier wieder besondere Lehrer, allen voran Ute Pruggmayer-Philipp, die Lehren ganzheitlich begriffen hat und mir auch mein erstes Yoga-Buch empfohlen hat. Sie hat mich gelehrt, was Pädagogik bedeutet, welche Freude sie bereitet und welche besondere, große Aufgabe das ist. Während des Studiums, in dem ich auch Chorassistentin war, habe ich dann mit Freude meinen ersten eigenen Chor geleitet – aber außerhalb des Studiums, wo mir niemand kritisch auf die Finger sah. Dort habe ich erste Erfahrungen gesammelt, die mich wirklich in der Praxis haben ankommen lassen. Hier habe ich auch begriffen, dass für gute, Alle befriedigende Ergebnisse kontinuierliche Arbeit nötig ist und es nicht mit fetzigen Mitmachprojekten getan ist. Dass Pädagogik mehr ist als schnelle Begeisterung. Hierfür war auch eine TZI-Ausbildung (Themenzentrierte Interaktion), die ich später machte, sehr hilfreich.
Wie verhält sich das pädagogische Ziel zum künstlerischen Anspruch als Musikerin?
Ui, das ist manchmal kein leichtes Verhältnis … es stellt mich immer wieder vor die Frage: Wie kann ich dazu beitragen, dass sich die Menschen vor mir mit ihrem künstlerischen Potential entfalten können und welchen Rahmen braucht das – sowohl in der Probenarbeit als auch im Konzert. Manchmal gelingt es auf beglückende Art und Weise, manchmal stoße ich an Grenzen. Dann bin ich froh, dass ich noch »meine Orgel« habe und da ganz meinen Intentionen folgen kann.
In allen Prozessen, in denen ich mit anderen zusammenarbeite, kann ich nicht nur meinem Willen folgen, meinem Arbeitstempo, meinen Vorstellungen … da muss ich resonant sein. In diesem Spannungsfeld habe ich mir auch abgewöhnt, von jedem Stück völlig feste Vorstellungen zu haben. Sie sind nicht allein maßgeblich. Im Gegenteil – manchmal sind sie nur der Anfang, manchmal nur ein vages Gerüst. Was bringt es, wenn ich meiner Tempovorstellung folge, um am Ende zu spüren: So kommt es nicht zum Klingen.
Die schöne Erkenntnis ist: Alles ist ein Prozess. Was am Ende herauskommt, ist ein Puzzle vieler Komponenten, die ich zwar beeinflussen, aber nicht allein bestimmen kann – und will. Die Herausforderung besteht immer wieder darin, zurückzutreten, Raum zu lassen und meinem Gegenüber – meinem Chor – die schönstmögliche, authentische Entfaltung zu ermöglichen. So ist es ein gegenseitiges Geben und Nehmen, ein gemeinschaftliches Werden und Entwickeln.
Als Musikerin bekommen Sie unmittelbar Resonanz durch Konzerte und Aufnahmen. Als Pädagogin brauchen Sie einen längeren Atem – Sie säen und ernten die Früchte oft erst Jahre später. Wie ist ihre Erfahrung damit?
Die kontinuierliche Arbeit lohnt sich! Sie schafft Vertrauen und versetzt am Ende Berge. Ich erinnere meine Anfänge hier in Waren und Ziele, die unerreichbar schienen. Bach: Ja. Schön! Aber mit uns?
So habe ich mit Chorälen begonnen und diese regelmäßig in Gottesdiensten aufgeführt – das war doppelt effektiv. Ich hatte den Chor regelmäßig im Gottesdienst – mitunter haben wir extra Gottesdienste initiiert, um diese oder jene Musik live zur Reife zu bringen – und der Chor wuchs mit jedem Choral, jedem einzelnen Stück in die Klangwelt Bachs hinein. Die Kinder kamen selbstverständlich mit dazu und erlebten es als supercool, dann im Weihnachtsoratorium mit dabei zu sein. Insofern waren es rückblickend nicht wirklich lange Wege, sondern immer überschaubare Strecken dank kleinerer Zwischenziele. Und über die Jahre durfte ich inzwischen Sängerinnen und Sänger über ihre gesamte Schulzeit begleiten, ihr Reifen und ihre Entfaltung erleben. Das ist ein wunderbares Erlebnis. Es geht so viel über eine gute, vertrauensvolle Beziehung. Das ist der Nährboden der Zusammenarbeit – und die möchte ich mit allen erreichen, in jedem Chor für sich und zwischen den Chören, wenn ich sie zusammenführe.
Was schätzen Sie an der Chorarbeit mit Kindern und Jugendlichen?
Welche besonderen Aufgaben sehen Sie hier?
Kinder lernen unglaublich schnell. Sie haben unverbrauchte, offene Antennen für alles und nehmen sehr feine Nuancen wahr. Sie sind im Kontakt – untereinander und mit mir – und geben ehrliches Feedback. Die Wandlung und Entwicklung hin zu Jugendlichen und schließlich jungen Erwachsenen ist ein sensibles Feld voller Wunder und Lebensenergie.
Ich lerne selbst viel von Kindern und Jugendlichen. Und es geht so schnell, dass sie etwas können und sich klingend einbringen können. Wenn ich mit ihnen etwa ab der 1. Klasse arbeite, dann sind sie in der 3. Klasse mit dabei, wenn es heißt »Wie soll ich dich empfangen« … das ist einer der schönsten Choräle überhaupt – und sie können und lieben ihn, weil wir mit dieser kleinen, berührenden Melodie und diesem bedeutungsstarken Text auch unsere Lebens- und Willkommenskultur untereinander abklopfen und uns gegenseitig befragen: Wie soll ich dich empfangen?
Was erachten Sie als wesentlich, um Kinder und Jugendliche für das Singen und die Chorarbeit zu begeistern?
Zunächst bin ich es als Person, die begeistert sein muss und begeistern möchte – denn ich bin die, die gern mit den Kindern und Jugendlichen singen möchte. Ich möchte sie mit ihrer Spiel- und Entdeckerfreude erreichen und ihren Einstieg in die Selbsterfahrung und Selbstermächtigung im Singen begleiten. Dabei ist es für mich wesentlich, jede Einzelne und jeden Einzelnen zu sehen und zu hören. Zu jeder und jedem spüre ich mich hin, spüre mich ein. In Beziehung zu sein, ist die schöne und wesentliche Aufgabe.
Im praktischen Sinne sind es außerdem ein stabiler Probenrahmen und gut gesetzte Ziele, die vom Kontakt mit den Eltern getragen sind. Chorwochenenden schweißen zusammen mit intensiver Arbeit und schönen Erlebnissen. Allein-Singen-Dürfen und Mehrstimmig-Singen-Können erlebe ich zudem immer wieder als motivierend. Wenn das dann noch im Chormantel stattfindet, den die Kinder bei uns, Dank der Initiative unseres Fördervereins und einer tollen Schneiderin, tragen, dann stiftet das zusätzlich eine außergewöhnliche Aura und weckt besondere Gefühle.
Singen ist potenziertes Musizieren – immer agieren Sie auch mit Worten und Texten; mit Aussagen, die die Energie der Musik zusätzlich prägen. Wovon lassen Sie sich bei der Repertoire-Auswahl primär leiten: Von guter Musik? Von guten Texten? Was ist ausschlaggebend?
Beides muss passen. Und dann immer auch zum gegebenen Anlass. Zu Ostern habe ich kurzerhand zu einem Lied, das wir gerade für eine Musicalaufführung proben und sehr schön österlich klingt, einen neuen Text geschrieben – ich konnte die von den Kindern ins Spiel gebrachten Bilder aufnehmen. Das war mal so richtig maßgeschneidert. Nicht im klassisch christlichen Jargon, sondern tatsächlich in unserer Alltagssprache – das ist einer der wesentlichsten Ansätze für das gegenseitige Verständnis.
Einmal wurde der Kinderchor eingeladen, beim Jubiläum des Ruheforst zu singen. Auch für diesen speziellen Anlass habe ich lange nach einem passenden Text gesucht und diesen dann schließlich selbst vertont. So konnten wir mit einer Musik aufwarten, die auch wirklich zum Anlass passte.
Das ist eine wesentliche Grundbedingung für jeden Auftritt. Es muss sich verzahnen. Unsere Intention muss für uns und andere klar sein, dann gelingt es auch und schafft eine stimmige Atmosphäre – so wie im Kindermusical, das wir gerade proben: »Wer singt, hat keine Angst« meines Schweriner Kollegen Christian Domke.
Gibt es eine Tradition, die Sie selbst prägt und die Sie weitervermitteln wollen?
Kinderchorkantaten und Aufführungen mit dem Jugendchor waren für mich eine tolle und prägende Erfahrung – der Zugang zu einer spirituellen Erfahrung, die noch mehr als das gemeinhin als christlich bezeichnete abbildet und so auch denen Zugang gewährt, die mit der Kirche als solches wenig oder gar nichts anfangen können. Für mich war es eine Welt, in der mein Eigenes wachsen und ich damit erwachsen werden konnte. Ich freue mich, wenn unsere Kinderchöre und die Jugendkantorei unserer Singschule so ein Lebens- und Entfaltungsraum sein können und unsere Kinder und Jugendlichen darin finden, was ich selbst erleben durfte.
Gibt es Stücke, die Sie anderen Kinder- oder Jugendchören empfehlen würden?
Haben Sie ein – oder mehrere Lieblingsstücke, die Sie immer wieder gern mit Kindern oder Jugendlichen einstudieren?
Für den Kleinen Kinderchor (1. und 2. Klasse) ist das neue Carus-Kinderchorbuch »Singend mit Gott groß werden« oder »Singen mit Kita-Kindern« aus der »Carus-Chorissimo-Reihe« eine Fundgrube. »Das Knöspchen« oder »Wir wollen heute feiern« singen wir daraus immer wieder gern. Gerade ist wieder einmal »Tiggeditag, der Tausendfüßler« aus dem »Freiburger Kinderchorbuch« Band 1 groß im Rennen.
Im Großen Kinderchor (3. bis 5. Klasse) finden die Lieder aus dem Film »Die Kinder des Monsieur Mathieu«, herausgegeben bei Carus, großen Anklang. Die Herausforderung der Zweistimmigkeit nehmen die Kinder gerne an. Immer wieder schön sind auch die »Zehn Lieder für Kinderchor und Klavier« von Gunther Martin Göttsche. Die Choräle aus Bachs »Weihnachtsoratorium« singen wir regelmäßig. Die Großen Fortgeschrittenen freuen sich über ein Solo zu zweit oder zu dritt bei Nr. 7 »Er ist auf Erden kommen arm« oder über die Echos in Nr. 39 »Flößt, mein Heiland«.
»Hine mah tov« im Satz von Wolfram Buchenberg aus dem »Chorbuch a tre 2«, ebenfalls bei Carus erschienen, ist ein klangvoller dreistimmiger Satz für die Jugendkantorei. »Glory to thee, my God, this night« von Thomas Tallis, im Arrangement von Kenneth Brown aus dem Oxford-University-Press-Chorbuch »Glory to God« geht mit leichten, aber wirkungsvollen Mitteln in die Fünfstimmigkeit.
Was ist das schönste Lob und der größte Dank, den Sie für Ihre Arbeit als Kantorin und
Chorleiterin erhalten?
Da gibt es so vieles! Zum Beispiel erzählte mir neulich eine Kinderchor-Mutter, dass ihre beiden Kinder – die Erstklässlerin ist im Kleinen Kinderchor, die Viertklässlerin im Großen Kinderchor – mit großer Freude ihrem kleinen Neffen Kanons vorsingen – und das zweistimmig. Die Vorstellung, wie die Beiden freudig zweistimmig singen, ist für mich ein schönster Dank. Oder, wenn die Jugendlichen am ersten Schultag nach den Sommerferien selbstverständlich und erwartungsvoll wieder alle zur Probe kommen, ist ein schöner Dank für mich.
Wenn die Atmosphäre in der Gruppe wertschätzend und einander stärkend ist – das ist ein Dank.
Die Freude, die nach einem Probenwochenende, nach einer Aufführung oder einer Probe weiterklingt, ist ein Dank. Ein tragender. Immer wieder.