Luise Clara Schiefner

Kantorin an St. Thomas in Wolfenbüttel, vormals Chorleiterin der Kinder- und Jugendchöre der Propstei Goslar

Interview in Wolfenbüttel im Februar 2024

Kantorin und Chorleiterin – war es Ihr Wunsch-Beruf? Was macht er für Sie aus? Ist er für Sie (auch) eine Berufung?

Ich stamme aus keiner direkten kirchen-, gleichwohl aber einer musikalisch geprägten Familie, in der es ganz normal war, ins Konzert zu gehen – und auch, genau hinzuhören, was gesungen oder gespielt wird. In einer Kirchengemeinde waren wir natürlich auch aktiv. So wurde mir die Orgel als Begleitinstrument in den Gottesdiensten schnell vertraut und reizte mich frühzeitig: So ein gewaltiges Instrument voller Farben und Möglichkeiten! Das zart oder rauschhaft zum Klingen bringen zu können, damit zu flüstern oder die ganze Kirche zum Beben zu bringen, fand ich total spannend. Evangelischer Kindergarten, Grundschule, evangelisches Gymnasium – es war ein schönes, halbwegs heiles, kleines Milieu, in dem ich aufwuchs – und in dem ich alsbald vor allem und mit großer Lust nur eins wollte: Orgel spielen. Einfach nur Orgel spielen. Sogar in der Pubertät, sodass ich schon mit 15 Jahren die C-Kirchenmusiker:innen-Prüfung in meiner Heimatstadt Berlin machte – und dabei entdeckte, was Kirchenmusik insgesamt alles bedeutet – wie breit aufgestellt und spannend die Ausbildung ist.
Also zog ich nach dem Abitur zum Studium der Kirchenmusik nach Hamburg an die Hochschule für Musik und Theater und hängte noch ein vertiefendes Orgel-Studium an der Hochschule für Musik in Detmold dran. Parallel zu diesem Steckenpferd, das ich bis heute liebe und pflege, kam ich mit der Kinder- und Jugendchorarbeit in Berührung und fing an, selbstständig im musikpädagogischen Bereich mit Konzertformaten für junge Menschen zu arbeiten. Nach den Jahren im Norden wurde ich Kantorin für den Primarbereich in Braunschweig, parallel war ich Honorarkraft an einer Musikschule in Hildesheim. Später übernahm ich dann die Kinder- und Jugendchöre der Propstei Goslar. Das waren alles tolle Erfahrungen – leider aber immer nur befristete Stellen, die die mit viel Energie betriebene Aufbauarbeit und erfolgreichen Aktivitäten der jeweiligen Kinder- und Jugendchöre nach zu kurzer Zeit wieder einschmelzen ließen – und etliche dieser motivierten jungen Menschen allein. Zwar haben fest angestellte Kolleginnen und Kollegen vor Ort die Arbeit zum Teil auffangen können – aber eben natürlich nur zum Teil, also in deutlich geringerem Maße, was der entfachten Lust der jungen Menschen und den Möglichkeiten, ihr Potential zum Klingen zu bringen, nicht gerecht wird.

Dieser Frustration zum Trotz macht mir mein Beruf in seinen verschiedenen Facetten viel Freude – vor allem das gemeinsame Musizieren, insbesondere mit jungen Menschen, die prägenden gemeinsamen Reisen und Freizeiten, die wachsende, aufeinander vertrauende und miteinander reifende Gemeinschaft. Dazu gehört aber auch viel Zeit allein – viel üben, viel organisieren, viel Kommunikation – und viel Arbeit am Schreibtisch, deren Ertrag ohne Mehrwert ist. Insofern ist mein Blick auf meinen Beruf zwiespältig – das Musizieren ist innerer Ausdruck und eigene Stärke und damit ganz sicher eine Berufung – sowohl solistisch als auch in der wunderbaren Arbeit mit den Chören. Auf der anderen Seite sind die starren, oftmals lähmenden dienstlichen Strukturen, die der Lebendigkeit der Arbeit und der Aufgabe entgegenstehen. Sie bremsen und entmutigen. Gelder fehlen oder werden in schnelllebigen Projekten verbrannt. Vor allem in der Kinder- und Jugendarbeit werden regelmäßig nur befristete Stellen geschaffen, die trotz erfolgreicher Arbeit nicht verstetigt werden und tolle Kolleginnen und Kollegen vertreiben. Stellenstreichungen, die demnächst vielerorts auf die Verrentungen folgen werden, werden ihr Übriges tun. Die strukturellen Probleme und Defizite sind anstrengend und ermüdend. Sie werfen Schatten auf die wunderbare Arbeit vor Ort mit den Menschen. Dafür braucht man ein dickes Fell – mit etwas Langmut hilft mir die Musik portionsweise darüber hinweg.

Was waren Ihre Ambitionen beim Berufseinstieg?
Hatten Sie das Ziel, aktiv pädagogisch zu arbeiten, von Anfang an?

Bereits während meines Studiums in Hamburg habe ich in einer tollen Gemeinde anfangen und sehr schöne Erfahrungen sammeln können. Diese Gemeinde hatte auch einen Kindergarten, über den ich in die Kinderchorarbeit hineingekommen bin – eher aus Versehen sozusagen – aber ich habe schnell gemerkt, dass mir die Arbeit mit den Kindern sehr liegt und mir viel Spaß macht. So habe ich mir dieses Feld Stück für Stück erobert.

Wie verhält sich das pädagogische Ziel zum künstlerischen Anspruch als Musikerin?

Ich weiß nicht, ob es hierauf eine gemeingültige Antwort geben kann – ich habe sie nicht. Ganz bestimmt kommt es darauf an, wo und in welchem Rahmen man arbeitet, welche Voraussetzungen gegeben sind und auch, welche Erwartungen und Unterstützungen man vor Ort erfährt. Wie ernst wird die Musik genommen – als Pausenfüller oder als individueller Ausdruck? Als entspannender Zeitvertreib oder zur Auseinandersetzung mit mir und der Welt? Als Kunst?
Entsprechend stellt sich auch die Frage an mich – wie definiere ich pädagogische Ziele und welchen Anspruch habe ich selbst an die Musik, mit der ich andere erreichen und sie mit ihnen gemeinsam gestalten will.
Ganz gewiss ist es so, dass eine gute, auf mein Gegenüber ausgerichtete Pädagogik zu einer intensiveren und damit auch schöner klingenden Musik verhilft. Es liegt an mir, was ich will und was möglich ist. Das ist ein weites Lern-Feld. Jede Erfahrung muss ich dabei selbst machen – jede Erfahrung ist dafür wichtig – und dennoch ist jede Situation immer wieder neu, und ich muss in der Lage sein, das Vertrauen auf eine alte Erfahrung gegen eine neue einzutauschen.

Als Musikerin bekommen Sie unmittelbar Resonanz durch Konzerte und Aufnahmen. Als Pädagogin brauchen Sie einen längeren Atem – Sie säen und ernten die Früchte oft erst Jahre später. Wie ist ihre Erfahrung damit?

Ich finde, beides gehört zusammen und ist für alle wichtig – nicht nur für mich als anleitende Musikerin und Pädagogin. In der Regel gehe ich mit den Kindern und Jugendlichen relativ schnell auf die Bühne, um solche Erfahrungen zu sammeln – das heißt: Wir machen gern und viel Konzerte, singen in Gottesdiensten oder führen Musicals auf. So erleben wir gemeinsam die Resonanz des Publikums und die Freude, es bis auf die Bühne und bis ins Konzert geschafft zu haben – dahin, wo wir Erfolg haben in der Freude über gemeinsam Erreichtes und Dankbarkeit und Bewunderung spüren für den Weg dahin.
Natürlich laufen parallel die Gruppen der ganz Kleinen, die erst an Auftritte herangeführt werden müssen. Sie sehen die Größeren auf der Bühne und möchten dort auch einmal stehen und dabei sein. Das dauert ein wenig, aber meistens können auch die Kleinsten schon recht zügig hier und da im Gottesdienst mitsingen und dann auch mit den Größeren Musik machen.

Was schätzen Sie an der Chorarbeit mit Kindern und Jugendlichen?
Welche besonderen Aufgaben sehen Sie hier?

Mir gefällt die direkte Art von Kindern sehr. Die ist frei von Berechnung, unabhängiger von Beziehungskisten und in ihrer Unmittelbarkeit einfach nicht zu toppen. Mir gefällt ihre Begeisterungsfähigkeit, wie sie sich auf eine Sache konzentrieren und dafür brennen können – dass sie oft einen unbeirrbaren Willen und schier endlos langen Atem haben für das, was ihnen wichtig ist.

Das trifft auch für Jugendliche zu. Ich finde es schön zu sehen und freue mich daran, wie sie beginnen, Verantwortung zu übernehmen, ihre eigenen Ideen einbringen, Konzerte selbst mitgestalten.
Im optimalen Fall bin ich ab einem gewissen Alter der Jugendlichen nur noch für die musikalische Arbeit und die Konzerttermine zuständig – den Rest organisieren die Jugendlichen mit Enthusiasmus in ihrem eigenen Space allein.

Ein grundlegender Aspekt in der Chorarbeit mit Kindern und Jugendlichen ist einerseits die Zeit, die nötig ist, und andererseits das damit verbundene Fingerspitzengefühl, um Kinder wirklich für das Singen zu begeistern. So, dass sie gern und vorfreudig wiederkommen. Viel Ruhe. Wenig Druck. Viel Raum zum Entdecken und Lernen. Und für alles klare, gemeinsame Regeln, damit auch im Spiel nichts drunter und drüber geht und eine Verlässlichkeit spürbar ist, die individuell auch abgerufen werden kann. Wichtig dafür ist der Verzicht auf klassische Frontalpädagogik. Diese Art einseitiger Rollenverteilungen schafft keine Gemeinschaft. Und Singen ist Gemeinschaft.

Was erachten Sie als wesentlich, um Kinder und Jugendliche für das Singen und die Chorarbeit zu begeistern?

Kurz und bündig: selbst die Musik lieben, die man macht! Präsent und klar sein in dem, was man tut. Das ist für mich der wesentlichste Gelingensfaktor.

Singen ist potenziertes Musizieren – immer agieren Sie auch mit Worten und Texten; mit Aussagen, die die Energie der Musik zusätzlich prägen. Wovon lassen Sie sich bei der Repertoire-Auswahl primär leiten: Von guter Musik? Von guten Texten? Was ist ausschlaggebend?

Das ist für mich sehr vom Anlass und vom Alter der Kinder abhängig. Grundsätzlich ist es natürlich optimal, wenn beides im Einklang ist und überzeugt, aber dieser Umstand ist eher selten. Ich hatte auf einer früheren Stelle einen sehr fitten Kollegen, ein Pastor, der mir, wenn ich gute Musik mit weniger guten Texten hatte, kurzerhand neue, zugänglichere Texte geschrieben hat – Kontrafakturen also, um guter Musik zu ausgewogen guten Texten zu verhelfen, damit wir sie aufführen konnten. Das hat Spaß gemacht, weil es auch eine Spur individueller wurde. Hin und wieder mache ich das auch mal selbst, wenn es nötig ist. Fitte Kolleginnen und Kollegen suchen sich auch selbst vernünftige Texte und schreiben sich komplett ihre eigenen Stücke, damit es für sie und ihre Chöre passt.
Für mich persönlich ist zunächst die Musik ausschlaggebend – was wirklich gut klingt, hat schon seine eigene Sprache. Auch ohne Worte. Insbesondere die jüngeren Kinder brauchen aber oft klare, schlüssige und für sie verstehbare Texte, damit sie sich ernstgenommen fühlen. Jugendliche sind da toleranter – oder ignoranter. Sie nehmen für eine richtig gute Musik auch mal weniger gute Texte in Kauf, hinter denen sie nur bedingt stehen. Dann reden wir drüber.

Gibt es eine Tradition, die Sie selbst prägt und die Sie weitervermitteln wollen?

In meinem Studium hatte ich Kinderchorleitung bei Domkantorin Elke Lindemann vom Braunschweiger Dom. In ihrer Art des Herangehens an die Literatur und im Umgang mit den Kindern hat sie mich sehr geprägt. Ich mache natürlich nicht mehr alles genau so, wie ich es im Studium gelernt habe, sondern flechte individuelle Erfahrungen und Eigenheiten mit ein. Im Wesentlichen aber arbeite ich noch nach der Methode, die mir vor allem Elke Lindemann vermittelt hat, weil ich absolut davon überzeugt bin.
Was die musikalische Tradition angeht, so möchte ich die Kinder natürlich mit allem Großen und Schönen vertraut machen, was mir selbst viel gibt – aber das muss wachsen: Aus dem Hier und Jetzt der Klänge in die große Musik der Alten Meister um und vor Johann Sebastian Bach ebenso wie alles Gute, was heute und morgen geschrieben wird – Zukunftsmusik also.

Gibt es Stücke, die Sie anderen Kinder- oder Jugendchören empfehlen würden?
Haben Sie ein – oder mehrere Lieblingsstücke, die Sie immer wieder gern mit Kindern oder Jugendlichen einstudieren?

Empfehlungen für Kindermusicals übernehme oder gebe ich eher selten, weil schlussendlich jede und jeder etwas sehr Spezielles für sich und ihren oder seinen Chor sucht und etwas ganz Spezielles vor Augen hat im Blick auf die Charaktere der Kinder, ihre Vorlieben und Eigenheiten. Also suche ich mir oft eher die Finger wund, bis ich endlich etwas gefunden habe – und bin doch beinahe nie ganz zufrieden … das spiegeln mir auch etliche meiner Kolleginnen und Kollegen. Das Hauptproblem scheint mir, dass sehr viel Literatur nicht wirklich taugt. Das geht damit los, dass es oftmals unreflektierte Bibelgeschichten über Männer sind, in denen Frauen keine Namen haben und das Ganze in beschaulich-schulmeisterliche Popmusik gegossen wird.

Meine Jugendlichen singen sehr gern Stücke von John Rutter, was weniger mein eigener Geschmack ist. Aber ich sehe, dass es ihnen ausgesprochen viel Freude macht – wie sollte ich ihnen die vermiesen … In den vergangenen Jahren mochten die Kinder und Jugendlichen beispielsweise sehr gern „Flying free“ von Don Besig – da hat sich unser Geschmack wieder ganz gut getroffen, weil ich das Stück textlich gern mag. Es wurde dann schnell zu einem Hit für alle Gelegenheiten … Ein wirkliches Highlight für mich war im vergangenen Jahr unser Mitsingen beim Eingangschoral der Matthäuspassion – das hat mich wirklich sehr gefreut und ist auch toll gelungen. Sehr gern möchte ich mit meinen Jugendlichen einmal das Fauré-Requiem aufführen – das hat für mich eine besondere, verbindende Kraft und klangliche Intensität.

Was ist das schönste Lob und der größte Dank, den Sie für Ihre Arbeit als Kantorin und
Chorleiterin erhalten?

Ich bin sehr berührt von der Bindung, die untereinander und zu den Kindern entsteht. Sie ermöglicht eine gute und konfliktfreie Arbeit. Das ist ein großes Geschenk und ein weites offenes Tor für die weitere Arbeit und nächste Projekte. Und ich freue mich, wenn ich sehe, wie die Kinder und Jugendlichen durch erste Solo-Rollen wachsen, aufblühen und plötzlich tolle Dinge können, die sie für ihr Leben stärken und uns allen tolle Konzerte und tief gehende Erlebnisse schenken.

Das Gespräch mit Luise Clara Schiefner führte Klaus-Martin Bresgott.

Fotos: Kulturbüro des Rates der EKD/Ralf Klöden