Therese Härtel

Chorleiterin und Kreiskantorin, Kirchenkreis Falkensee

Interview im August 2024 in Dallgow-Döberitz

Kantorin/Chorleiterin – war es Ihr Wunsch-Beruf? Was macht er für Sie aus? Ist er für Sie (auch) eine Berufung?

Mein Weg zur beruflichen Kirchenmusik ergab sich zunächst eher aus Verlegenheit. Was sollte ich nach der 10. Klasse tun? Ich komme als jüngstes von fünf Kindern aus einem kirchlichen Haushalt aus einem kleinen Dorf in der Nähe der Lessingstadt Kamenz – mein Vater war Diakon, meine Mutter hatte mit uns Kindern zu tun und war in der Gemeinde aktiv. An ein Abitur war vor meinem elterlichen Hintergrund in der DDR nicht zu denken. Wir Kinder lernten alle ein Instrument, ich spielte Geige. Als ich zwölf oder dreizehn war, brach sich meine Mutter, die in den Gottesdiensten die Orgel spielte, den Arm – knapp vier Wochen vor Weihnachten. Was tat sie? Sie suchte einfache dreistimmige Choralbegleitungen für den Weihnachtsgottesdienst heraus, legte sie mir auf den Tisch und sagte zu mir: Du musst mir helfen! Das schaffst Du! Also habe ich bis Weihnachten Tag und Nacht an der Orgel gesessen und spielte Weihnachten mit Herzklopfen, aber flüssig und mit leidlichem Fingersatz zum ersten Mal im Leben die Orgel. Darauf war ich dann unheimlich stolz! Und damit war auch mein zweites Instrument klar – und in der 10. Klasse lag es dann irgendwie nahe, Kirchenmusik zu studieren. Dafür ging ich nach Dresden. Das erste Kapitel Kirchenmusik währte freilich nicht sehr lange. Unser erstes Kind kam auf die Welt; ich zog mit meinem Mann mit auf seine erste Stelle, konnte nach 1989 endlich mein Abitur machen und nach und nach kamen dann noch fünf Kinder. In dieser Zeit studierte ich an der Berliner Humboldt-Universität parallel Kultur- und Musikwissenschaften – erfolgreich, aber mit der schnellen Einsicht, dass ich keine Theoretikerin und Geisteswissenschaftlerin bin – und kam in dieser Zeit zu meinem dritten Instrument: dem Chor. Natürlich hatte ich schon von Kindesbeinen an in verschiedenen Chören gesungen und während der ersten Semester in Dresden auch schon an der Chorleitung geschnuppert – aber es lag gänzlich außerhalb meiner Pläne, mich in dieses Feld zu begeben. Bis im Dorf die inzwischen über 80-jährige Chorleiterin aus Altersgründen aufgab und der Pfarrer mich bat, den kleinen Chor zu übernehmen … Dann war es mehr oder weniger um mich geschehen – und ich freute mich, so wie ich es bis auf wenige Ausnahmen auch bis heute tue, auf jede nächste Probe. Nachdem die Kinder etwas größer waren, nahm ich das Kirchenmusikstudium wieder auf – dieses Mal in Greifswald – beendete auch dieses Studium bei Matthias Schneider und Johannes Gebhardt an der Orgel und vor allem bei Jochen Modeß im Chor und der Chorleitung – und bin mit Freude damit auch ganz offiziell Kantorin.
Ja, im Rückblick und im Hier und Jetzt ist es mein Wunschberuf – auch wenn er, wie jeder Beruf, seine Schattenseiten hat und von einem Idealbild überstrahlt wird. Bei aller Freiheit, die ich in meiner Tagesgestaltung habe – niemand stört es, wenn ich schon morgens um fünf Uhr oder abends um elf Uhr übe – verlangt er eine unheimliche Präsenz, die mir mitunter über die Maße viel abverlangt, weil ich nicht für mich allein agiere, sondern – dies gilt vor allem für die Arbeit mit den Erwachsenen- und Kinderchören – für Viele und vieles Verantwortung trage und in bestimmten Momenten einfach nicht fehlen kann – egal, wie es mir geht. Aber ich fühle mich in diesem Beruf in meiner Kraft und damit – wenn Sie es so wollen – durchaus in meiner Berufung mit den Gaben, die ich habe.

Was waren Ihre Ambitionen beim Berufseinstieg?
Hatten Sie das Ziel, aktiv pädagogisch zu arbeiten, von Anfang an?

Ganz am Anfang hatte ich ein wenig die Illusion einer Glückseligkeit, einfach an einem guten Ort schön musizieren zu können. Aber das allein genügt nicht immer – es ist immer eine Frage der Übereinkunft mit dem Gegenüber und den eigenen Ambitionen. Ich habe einen Chor, mit dem wir tatsächlich einfach aus Freude musizieren – diesen Ansatz kann ich im Blick auf die Gemeinschaft, der ich gegenüberstehe, teilen und lasse mich gern darauf ein. Hier verstehen wir das gemeinsame Singen vor allem als Freude und Seelenbalsam. Das passt und ist gut so. Genauso habe ich einen Chor, der mich – wie auch die Kinderchöre – fordert, der meine intensive Beschäftigung und pädagogische Kraft verlangt, weil das Singen hier über den schönen Selbstzweck hinaus auch mit einer Entwicklung verbunden ist: neue Werke, neue Epochen, neue Schwierigkeitsgrade … Hier bin ich also vielfältig gefragt – und das ist gut so. Es eröffnet mit jeder neuen Aufgabe neue Klänge und Blickwinkel und führt uns gemeinsam auf schöne neue Wege, die immer wieder bereichern. Pädagogik ist dabei wichtig – aber zunächst ist es immer die Person der Chorleiterin oder des Chorleiters selbst, die das Feuer der Freude an der Musik in den Chor trägt und neben kleineren handwerklichen Kniffen immer individuell in der Einstudierung vorgeht, um den Chor auf seinen Weg zu bringen. Ich kenne etliche Chorleiterinnen und Chorleiter, die ohne Ausbildung zu den besten zählen, die ich als Chorsängerin je kennengelernt habe und von denen ich mir viel abschauen und lernen konnte. Ausbildung ist natürlich ein gutes Rüstzeug, aber Intuition, Ausstrahlung und Begeisterungsfähigkeit sind nach meiner Erfahrung wesentlich, um gute und lebendige Chorarbeit zu machen.

Wie verhält sich das pädagogische Ziel zum künstlerischen Anspruch als Musikerin?

Pädagogisches Ziel und künstlerischer Anspruch sind zunächst eher theoretische Begriffe. Beides geht in der Lebendigkeit auf, die ich als Chorleiterin anstrebe und in jeder Probe versuche, Musik als Klangsprache der Seele und Brücke zwischen den Menschen im Chor und schließlich natürlich dann auch in den Konzerten zwischen dem Chor und dem Publikum hörbar zu machen. Insofern arbeite ich weniger in der Reflexion solcher Begriffe und unterscheide nicht zwischen ihnen – beides gehört für mich zusammen, indem ich auf meinen jeweiligen Chor sehe, in ihn hineinhöre und dann entscheide, was uns guttut, wieviel Anspruch guttut und was wir gemeinsam erreichen wollen. Der jeweilige Anspruch orientiert sich an der Freude an der gemeinsamen Arbeit und dem gemeinsam gesteckten Ziel. Daraus ergibt sich für mich keine Zwickmühle.

Als Musikerin bekommen Sie unmittelbar Resonanz durch Konzerte und Aufnahmen. Als Pädagogin brauchen Sie einen längeren Atem – Sie säen und ernten die Früchte oft erst Jahre später. Wie ist ihre Erfahrung damit?

Ich habe nicht das Gefühl, dass ich lange auf etwas warten muss. Das hängt vor allem damit zusammen, dass wir mit vielen kleinen Zielen arbeiten und so im ganzen Jahr auch immer wieder Erntezeit ist und weder Langeweile aufkommt noch zähes Warten auf Erfolge. Wir arbeiten im Kreislauf des Jahres, der seine eigene Erfüllung mit sich bringt – zunächst als Auftakt zum Einschulungsgottesdienst, dann zum Weltgebetstag, natürlich in der Advents- und Weihnachtszeit – und dann erarbeiten wir aus den Wintermonaten heraus in den Sommer hinein immer ein Musical, was die Kinder unheimlich schätzen, weil sie ganzheitlich gefordert werden – schauspielernd, mit Texten und der Musik. Insofern ist immer etwas los – und mit jedem Schuljahr öffnet sich ein neues Feld.

Was schätzen Sie an der Chorarbeit mit Kindern und Jugendlichen?
Welche besonderen Aufgaben sehen Sie hier?

Die Arbeit mit Kindern fordert mich immer ganz – und ist bei aller Anstrengung immer auch ein Jungbrunnen. Kinder sind so unglaublich begeisterungsfähig, schnell und offen, sie nehmen alles auf, lernen die Texte mit geradezu beängstigender Genauigkeit, weswegen ich manches Mal gerüffelt werde, wenn ich etwa »nur« statt »bloß« vorgesprochen habe … Es ist eine wunderbar direkte, offene Arbeit miteinander, wie sie nur mit Kindern geht, weil sie auch mit ihrem ganzen Wesen dabei sind. Manchmal wünschte ich mir mehr Zeit miteinander und weniger gestresste Kinder, die das eigene Musizieren zunächst erst einmal brauchen, um bei sich selbst anzukommen. Ich erlebe zunehmend, wie der Alltag der Kinder durchgetaktet ist, immer engmaschiger wird und sie gar keine Zeit mehr zum Beinebaumeln und Träumen, für spontanes Spiel und Einfach-auf-der-Wiese-liegen haben. Sie werden ständig beschäftigt und intellektuell gefüttert, aber für die Herzkompetenzen und das soziale Interagieren und Begegnen im freien Raum bleibt keine Zeit. Ihre Seelen kommen irgendwie zu kurz. Dafür sind unsere Chorstunden doppelt wichtig. Sie bringen die Kinder in Fühlung mit sich, unter- und miteinander. Das ist eine sehr wichtige Aufgabe, die ich sehe. Musik und Bewegung bieten dafür die schönsten Möglichkeiten. Es ist wunderbar zu erleben, wie vom Schultag angestrengte und gestresste Kinder nach der Chorprobe mit einem Ohrwurm auf den Lippen fröhlich nach Hause gehen …

Was erachten Sie als wesentlich, um Kinder und Jugendliche für das Singen und die Chorarbeit zu begeistern?

Kinder singen eigentlich von sich aus gern. Sie tragen es in sich. Das Singen und die Chorarbeit bringen den Kindern reale sinnliche und körperliche Erfahrung – und eine wirklich gemeinsam agierende Gemeinschaft. Die sind sie oft nicht gewohnt und erfahren sie zuhause auch nur punktuell. Chor ist auch nicht Sport, wo in der Mannschaft trotzdem jeder auf seiner Position agiert. Chor ist wirkliche Gemeinsamkeit in jedem Ton, in jedem Wort, in jedem Vokal, in jedem Konsonanten. Daraus erwächst ein unglaubliches Gemeinschaftsgefühl – das zu wecken, stiftet ein besonderes Erleben. Dazu kommen dann Konzerterlebnisse, die einmalig sind und sich tief im eigenen Erleben verankern. Wenn ich Kinder für solche Erlebnisse öffnen und sie dahin begleiten kann, dann ist so etwas wie ein Same in sie gelegt, der sie stärkt und worauf sie irgendwann in ihrem Leben vielleicht noch einmal zurückgreifen.
Singspiele und Musicals sind für die Kinder in der ganzheitlichen Inanspruchnahme für solche Begeisterung nach meiner Erfahrung besonders geeignet.

Singen ist potenziertes Musizieren – immer agieren Sie auch mit Worten und Texten; mit Aussagen, die die Energie der Musik zusätzlich prägen. Wovon lassen Sie sich bei der Repertoire-Auswahl primär leiten: Von guter Musik? Von guten Texten? Was ist ausschlaggebend?

Ich gehe zunächst schon von einer guten Musik aus. Was den Kindern gleich in den Körper geht, hat immer gute Chancen. Über den Text reden wir in der Regel. Oft kommen auch Fragen. Dann erkläre ich, was nötig ist, sodass alle wissen, was wir singen. Wenn die Texte nicht passen, was leider öfter so ist, schafft es leider auch die Musik nicht ins Repertoire. Lieder von Gerhard Schöne hingegen gehen immer!
In diesem Schuljahr wollen wir von Erich Kästner »Das doppelte Lottchen« aufführen – gemeinsam mit dem Kinderchor meines Mannes. Wir haben in unseren Chören gerade zwei eineiige Zwillingspaare – da bietet sich diese wunderbare Geschichte förmlich an! Unsere Tochter, Profi im darstellenden Spiel, hat aus dem Buch ein Libretto mit Dialogen und Liedern erstellt und nun sitzen wir an der Musik und sind selbst sehr gespannt, was daraus entstehen wird.

Gibt es eine Tradition, die Sie selbst prägt und die Sie weitervermitteln wollen?

Kants kategorischer Imperativ verbindet uns alle, ob Menschen mit christlichem Hintergrund oder ohne. Gute Musik macht diesen kategorischen Imperativ, der uns als Menschen zu gutem Willen füreinander befähigt und anhält, spürbar und hat eine unter der Haut fühlbare Spiritualität, mit der alle etwas anfangen und verbinden können.
Das ist im Kern vielleicht das Wesentliche, was ich vermitteln möchte. Auch hierzu fällt mir wieder Gerhard Schöne ein – seine Lieder zeigen diese tiefe Menschlichkeit in gefühlt tausend wunderbaren Geschichten für Kinder und Erwachsene.

Gibt es Stücke, die Sie anderen Kinder- oder Jugendchören empfehlen würden?
Haben Sie ein – oder mehrere Lieblingsstücke, die Sie immer wieder gern mit Kindern oder Jugendlichen einstudieren?

Zum ersten, zum zweiten und zum dritten: Gerhard Schöne. Auch im Singspiel-Musical-Bereich habe ich mit unseren Kinderchören zum Beispiel tolle Erfahrungen mit dem Musical »Zeitlos« von Jochen Modeß gemacht – es ist tatsächlich zeitlos und hat als Erkennungsmelodie einen wunderbaren Ohrwurm. Aber auch die anderen Musicals der vergangenen Jahre – wir führen im jährlichen Wechsel immer ein religiöses und weltliches Musical auf – waren immer sehr erfolgreich und haben den Kindern und den Besucherinnen und Besuchern viel Freude gemacht.
Das war zum Beispiel die Kantate »Die Geschichte von Jona und der schönen Stadt Ninive« von Detlef Schoener und Klaus-Peter Hertzsch, die wir szenisch erweitert aufgeführt haben, oder »Till Eulenspiegel« von Günther Kretzschmar, »Der Turmbau zu Babel« von Wolfgang Teichmann oder »Die Geschichte von Bileam und seine gottesfürchtige Eselin« – auch mit einem witzig-geistreichen Text von Klaus-Peter Hertzsch – von Gerd-Peter Münden. Auch der Ost-Klassiker »Traumzauberbaum« von Reinhard Lakomy und Monika Ehrhardt hat großen Spaß gemacht.

Was ist das schönste Lob und der größte Dank, den Sie für Ihre Arbeit als Chorleiterin erhalten?

Es ist herrlich, wenn die Kinder singend aus der Probe gehen oder zur Probe kommen, und ich spüre, wie die Musik in ihnen Fuß fasst und ihnen Freude macht. Toll ist auch, wenn Kinder trotz vieler anderer Aufgaben und Angebote über viele Jahre dabeibleiben und eine eigene Kinderchor-Identität entwickeln. Und nicht zuletzt freue ich mich natürlich über strahlende Kinder, stolze Eltern und berührte Lehrerinnen und Lehrer, wenn wir uns mit unseren Musicals auch in der Schule, in der wir proben, zeigen und erleben dürfen, wie wir Teil der Schulgemeinschaft sind und etwas Besonderes dazugeben können.

Das Gespräch mit Therese Härtel führte Klaus-Martin Bresgott.

Fotos: Kulturbüro des Rates der EKD/Ralf Klöden