Ulrike Schelter-Baudach

Kantorin, Kinder- und Jugendchorleiterin an der Stadtkirche St. Veit Wunsiedel

Interview im Juli 2024 in Wunsiedel

Kantorin/Chorleiterin – war es Ihr Wunsch-Beruf? Was macht er für Sie aus? Ist er für Sie (auch) eine Berufung?

Mir erging es wie Jona in der Bibel – die Kirchenmusik war mein Ninive … Das Kirchenmusikstudium, das ich 1988 in Halle an der Saale begann, war eigentlich nur zweite Wahl. Etliche Jahre lang träumte ich davon, Klavier zu studieren und Klavierpädagogin zu werden.
Aber ich bin in der damaligen DDR in einem christlichen und auch kirchenmusikalisch sehr aktiven und interessierten Elternhaus aufgewachsen, meine Eltern spielten beide Orgel. Meine Mutter war Katechetin – in der DDR die Religionspädagogin der Kirchengemeinde – und C-Kantorin. Mein Vater hatte die D-Prüfung im Orgelspiel, spielte seit seiner Jugend sonntäglich Gottesdienste und sang in mehreren Chören mit. Sonntags lief daheim im Radio immer die Bachkantate. Aus diesem Umfeld kommend, lag die Kirchenmusik natürlich nahe. Aber ich wollte da als Teenager ganz bewusst raus und einen normalen, einen weltlichen Beruf ergreifen. Das hat dann aber aus verschiedenen Gründen nicht geklappt.

Einer dieser Gründe war die Entscheidung meiner Eltern, mich nicht an der Jugendweihe teilnehmen zu lassen. Das zog einen Rattenschwanz an Konsequenzen nach sich … zum Beispiel durfte ich nicht an die Erweiterte Oberschule, um das Abitur zu machen. So besuchte ich das Kirchliche Proseminar in Naumburg, das – wie das auf gleicher Basis arbeitende Kirchliche Oberseminar in Potsdam Hermannswerder – zwar gute Bildung versprach, aber nur mit einem kirchlich anerkannten Abitur abschloss. Dort wurde ich durch den lebendigen Musikunterricht mit dem damaligen Domkantor Reinhard Ohse sehr stark kirchenmusikalisch geprägt. Im Unterricht sangen wir drei- und vierstimmige Sätze der Alten Meister – auch etliche der feinen, kleinen geistliche Konzerte von Heinrich Schütz waren dabei – und sind mit diesem Repertoire als Schulklasse umhergereist, haben in den Dorfkirchen der Umgebung gastiert und kleine Chorkonzerte gegeben. Außerdem gab es auch einen Seminarchor, der zum Beispiel jährlich in der Nacht vor dem 1. Advent vor den Türen der Dozent:innen und Mitarbeiter:innen des Seminars sang und mit den adventlichen und weihnachtlichen Sätzen aus dem legendären »Geistlichen Chorlied« von Gottfried Grote den Advent einläutete. Darüber hinaus gab es in der Stadtkirche St. Wenzel unter Irene Greulich und im großen Naumburger Dom bei Domkantor Ohse die Möglichkeit, im Chor mitzusingen. Es umgab uns dort also viel Musik, die im Sommer immer in wunderbaren Chorreisen des Kammerchores des Doms gipfelte – das alles hat mich enorm geprägt.
Für ein Klavierstudium hätte ich in der DDR zwar kein Abitur gebraucht, aber bei den Aufnahmebedingungen stand neben der künstlerischen Eignung auch eine einwandfreie politische Gesinnung im sozialistischen Geist obenan. Es stellte sich heraus, dass ich wohl die Aufnahmeprüfung für ein Korrepetitionsstudium schaffen würde, aber eben doch aller Wahrscheinlichkeit nach an der politischen Hürde scheitern würde.

Also war Kirchenmusik für mich die einzig reale Option, und so begann ich ein halbes Jahr vor der Aufnahmeprüfung an der Kirchenmusikschule in Halle – der heutigen Evangelischen Hochschule für Kirchenmusik – der Vernunft gehorchend, aber eher emotionslos, mit dem Orgelunterricht.

Nach bestandener Aufnahmeprüfung machte das Studium in Halle dann doch deutlich mehr Spaß als erwartet – und natürlich blieben die Tasten-Fächer, vor allem das Klavier, weiterhin mein Schwerpunkt. Auch das Mitsingen in den Chören der Hochschule machte mir viel Freude, ich spürte ein Interesse an der Chorleitung – aber hier war ich nie herausragend, da gab es andere Student:innen, die sich schnell profilierten – ich gehörte nicht dazu.
Am Ende des Studiums wollte ich zunächst nicht gleich ins Berufsleben. Ich war in einer kleinen Lebenskrise und sehr auf der Suche. In dieser Zeit fand mich meine erste Stelle mehr, als ich sie fand: Durch ein gemeinsames Gebet mit meiner Freundin und Mitstudentin Dorothee um eine Perspektive für meine Zukunft, fiel ihr ein kleiner Ort in Sachsen mit einer Silbermann-Orgel ein, wo offensichtlich gerade eine Kirchenmusikerin gesucht wurde. Bei genaueren Recherchen stellte sich allerdings heraus, dass vor allem eine Katechetin für die Christenlehre gesucht wurde, die auch nebenbei einen kirchenmusikalischen C-Abschluss haben sollte. Katechetin wollte ich aus der Erfahrung mit dem Beruf meiner Mutter aber nun wirklich gar nicht werden; Ärger mit lustlosen, gelangweilten Kindern – nein, Danke. Und aufs Dorf wollte ich nach einer Kindheit in einem Dorf mit 100 Einwohnern auch nicht zurück!
Trotzdem schaute ich mir diese Stelle an, und es kam wie es kommen musste: Ich verliebte mich in das Dörfchen, in die wunderschöne Gegend und natürlich auch in die einzigartige Orgel – und ich fühlte, dass meine Seele dort gesund werden würde. Also wurde ich doch Dorf-Kirchenmusikerin und Katechetin – wofür ich noch eine zweijährige Zusatzausbildung anschloss – und meine Berufung hatte mich trotz vielfachen Widerstrebens gefunden.

Was waren Ihre Ambitionen beim Berufseinstieg?
Hatten Sie das Ziel, aktiv pädagogisch zu arbeiten, von Anfang an?

An der wunderbaren Silbermann-Orgel in Reinhardtsgrimma bei Dresden konnte ich mich an den Tasten künstlerisch herrlich austoben. Als Chorleiterin ist man ja automatisch immer auch Pädagogin, und da war mir der Berufseinstieg auf dem Dorf auf jeden Fall lieber als plötzlich vor einer großen städtischen Kantorei mit langer Oratorientradition zu stehen, die als erstes das Weihnachtsoratorium und als nächstes die Matthäuspassion von Bach erwartet. Vor diesen großen Werken habe ich bis heute großen Respekt und hatte tatsächlich nie das Verlangen, eines davon einmal selbst zu dirigieren. Insofern war der pädagogische Part in der kleinen Form auf dem Land genau der passende Einstieg für mich. Die Kinderchorleitung war damals nur ein Arbeitsfeld von vielen, der Fokus darauf kam erst viel später – hier in Wunsiedel.

Wie verhält sich das pädagogische Ziel zum künstlerischen Anspruch als Musikerin?

Der Anfang und Ursprung jeder im Dialog entstehenden Kunst ist Pädagogik, möchte ich ganz steil behaupten. Und das pädagogische Ziel kann am Ende dann auch nur wirkliche Kunst sein. Daher stehen Pädagogik und Kunst für mich in keinem Widerspruch, etwa im Sinne von: Hier, zum Beispiel in unserer kleinen Stadt Wunsiedel, wird kirchenmusikalisch eher pädagogisch gearbeitet, das ist bestimmt ganz wertvoll und wichtig für die einfachen Leute. Aber die wirkliche Kunst findet an den bedeutenden Kirchen großer Städte wie Nürnberg, München, Stuttgart, Köln oder Berlin statt. Dort sind die Kirchenmusiker auch die wahren Künstler! Niemand dieser hochgeschätzten Kolleginnen und Kollegen könnte seine Konzerte so durchführen ohne die pädagogische Entwicklungsarbeit in der Kindheit und Jugend seiner Chormitglieder, die mit Liebe, Ausdauer und besonderen ersten Erfahrungen die Basis für ein späteres profundes Sängerdasein gelegt hat!

Die pädagogische Arbeit hat mich tatsächlich schon immer interessiert. Nach meinen ersten Klavierstunden im Alter von 7 Jahren habe ich gleich mal begonnen, eine neue Klavierschule zu entwickeln. Das Titelblatt mit der Aufschrift »Band 1, Heft 1« ließ auf einen großen Plan schließen, aber nach zwei ersten kleinen Stücken habe ich mich dann wohl doch erst einmal anderen wichtigen Dingen zugewandt …
Aber es erfüllt mich tatsächlich mit großer Freude, wenn ich sehe, dass sich zum Beispiel meine Instrumentalschülerinnen und -schüler im Unterricht und durch ihr Üben immer weiterentwickeln, und am Ende tolle und künstlerisch besondere Ergebnisse stehen können. Lange Zeit habe ich begeistert Schüler zum Wettbewerb »Jugend musiziert« begleitet. Es waren wunderbare Gelegenheiten, mit ihnen einmal in aller Ruhe in die Tiefe der Musik vorzudringen, und gemeinsam alle musikalischen und spieltechnischen Feinheiten aus ihren Stücken herauszuholen. Sie haben dabei jedes Mal sehr viel für ihr gesamtes Leben mitgenommen – und ich durfte auf schöne Weise daran teilhaben.
Mit meinem Jugendchor habe ich auch mehrfach an Wettbewerben teilgenommen, in der Hoffnung, dass sich diese Erfahrung wiederholt und sich die intensive Vorbereitung auf die gesamte Chorarbeit auswirkt. Aber das hat sich weniger erfüllt. Wir haben uns zwar jedes Mal sehr tapfer und für unsere Verhältnisse gut präsentiert, waren aber im Vergleich zu den Chören aus Musikgymnasien und Großstädten nur die Schlusslichter. Das war dann etwas frustrierend für die Kinder, und wir haben uns darauf besonnen, dass Konzerte ohne vergleichende Bewertung eigentlich viel schöner sind, weil sie uns frei musizieren lassen.
Mit dieser Erfahrung definiere ich meine pädagogischen Ziele mit dem Kinder- und Jugendchor heute auch nicht mehr mit dem Erreichen einer künstlerischen Exzellenz, sondern damit, dass ich den Kindern und Jugendlichen die Freude und das Glück des gemeinsamen Singens als Lebenskraft vermittelt kann, dass sie überhaupt ihre Singstimme entdecken, diese auf gesunde und stärkende Weise einzusetzen wissen, und sie bei mir die Grundlagen lernen, um später ein Leben lang mit Freude zu singen – in anderen Chören, dort, wo sie gerade zu Hause sind.
Dazu gehören für mich auch idealerweise Grundlagen in der Musiktheorie und der Musiklehre, in Gehörbildung, Rhythmik, Blattsingen und Stimmbildung, wie sie durch die neu installierte D-Ausbildung im Chorsingen durch die Deutsche Chorjugend vermittelt werden können. Wie ich das in meiner Chorarbeit unterbringe, daran experimentiere ich seit einiger Zeit schon herum.

Als Musikerin bekommen Sie unmittelbar Resonanz durch Konzerte und Aufnahmen. Als Pädagogin brauchen Sie einen längeren Atem – Sie säen und ernten die Früchte oft erst Jahre später. Wie ist ihre Erfahrung damit?

Das sehe ich ganz anders. Es kommt natürlich darauf an, wie ich eine Frucht meiner Arbeit definiere. Auf musikalische Exzellenz müsste ich sicher Jahre warten, aber für mich ist jeder kleine musikalisch gelungene Moment ein ganzer Mikrokosmos lebendiger Kunst.
Wenn ein Kleinkind in meinen Musikzwerge-Kursen das erste Mal ein Lied mitsingt oder auch nur erste kleine Bewegungen dazu macht, dann ist das Glück pur und ein Stück Himmel auf Erden für mich. Ebenso, wenn meine jüngeren Chorkinder in der Probe vollkommen konzentriert sind und es schaffen, einen zweistimmigen Kanon mit nahezu richtig getroffenen Tönen zu singen. Dann geht mein Herz auf!

Auch mein Jugendchor verschafft mir regelmäßig Gänsehautmomente in Proben oder bei Auftritten – einfach, weil ich an ihren Augen ablese, dass sie mit Herz und Seele dabei sind, und ihre Stimmen spiegeln das mit ihrem Leuchten wider. Da ist mir der anschließende Applaus des Publikums gar nicht so wichtig; der gelungene musikalische Moment ist mir Frucht und Resonanz genug.

Mit einem Kinderchor fängt man ja außerdem immer und ständig wieder von vorne an, denn es ist ein Kommen und Gehen – jährlich verlassen Kinder den Chor und neue Sänger:innen kommen dazu, die sich erst einfinden müssen. Also bleibt die Herausforderung immer neu, sich als Chorleiterin auf das jährlich neu zusammengesetzte Ensemble einzustellen, die passende Literatur auszusuchen, und trotzdem gleich den nächsten Auftritt so gelungen wie möglich für alle werden zu lassen. Natürlich hilft dabei ein verlässlicher kleiner Kern an Kindern, die über viele Jahre, oft 5 oder manchmal sogar 10 oder 12 Jahre, dabeibleiben, sich stimmlich und musikalisch weiterentwickeln, und den Chor damit entscheidend stabilisieren. Das sind die manchmal ganz unbemerkten Früchte, die erst über Jahre heranreifen. Das versuche ich immer bei den Geburtstagen meiner Chormitglieder ganz individuell zu würdigen.

Was schätzen Sie an der Chorarbeit mit Kindern und Jugendlichen?
Welche besonderen Aufgaben sehen Sie hier?

Kinder sind immer authentisch, sie machen aus ihrer Gefühlslage kein Geheimnis. Wenn die Probe zu langweilig oder zu anstrengend wird, wenn ihnen ein Lied oder ein Teil der Probe nicht gefällt, bekomme ich das sofort zu spüren.
Aber Kinder sind auch neugierig, wunderbar begeisterungsfähig und wissbegierig. Gerade im Grundschulalter bis zur 5. und 6. Klasse nehmen sie unwahrscheinlich schnell neue Lerninhalte auf, lernen die Liedtexte in Windeseile – auch fremdsprachige – möchten auch schnell im Notenlesen sein und freuen sich, wenn sie mich als Chorleiterin mit ihrem Können in Staunen versetzen können. Sie sind fantasievoll und lieben es, Geschichten zu singen und zu spielen, und das beflügelt auch wiederum meine Fantasie.
Kinder sind auch noch unvoreingenommen, und deshalb oft aufgeschlossener gegenüber aller Art und Stilistik von Musik als manche Erwachsene. Daher sehe ich ein großes Potential und gleichzeitig eine große Verantwortung in der Arbeit mit Kindern. Sie können und wollen lernen und alles ihnen Angebotene aufnehmen.
Daher sollte man keineswegs zu schnell tiefstapeln und den Anspruch gering halten, weil es in der Freizeit nur spaßig zugehen sollte. Dieser Trend ist natürlich auch zu beobachten, vor allem im Instrumentalunterricht, wo ich als Pädagogin, auch im Austausch mit Kolleginnen und Kollegen, immer mehr den Eindruck habe, dass kaum noch ein Kind oder eine Familie Interesse daran hat, auf dem Instrument Leistung zu bringen – es soll nur Spaß machen, und wer daheim regelmäßig übt, ist schon ein ziemlicher Exot.
Da hat die Chorarbeit natürlich Vorteile, denn dafür muss nicht unbedingt und immer geübt werden. Meine Chorkinder müssen allerdings schon auch gelegentlich üben, ihre Stücke auswendig lernen, besonders die Unterstimmen mit dem Üben daheim ihre Sicherheit erhöhen – auch im Musical müssen die Szenentexte daheim geübt werden, aber trotzdem ist es weniger Aufwand als im Instrumentalunterricht. Im Chor kann man sich auch oftmals an die sicheren Sängerinnen dranhängen und lernt in der Probe auch einfach durchs Mitsingen.

Als besondere Aufgabe sehe ich es schon seit vielen Jahren an, den Wert des Singens an sich wieder zu vermitteln und in der Gesellschaft wieder als Qualität und Quelle der Gemeinschaft zu stärken. Ich spüre häufig, dass es für bildungsaffine Familien einen höheren Wert hat, ein Instrument zu erlernen als im Chor zu singen. Dass auch das Singen in einem Chor musikalische Bildung pur ist – und sogar noch mehr: ganzheitliche Persönlichkeitsbildung, Erholung und Entspannung für die Psyche, soziales Lernen, Empathie-Training etc. etc. – das ist längst nicht so im Bewusstsein unserer Mitmenschen. Gerade Jungs und Männer empfinden Singen als uncool, weswegen in immer weniger Familien noch regelmäßig gesungen wird. Große Kampagnen, die es in den vergangenen Jahren immer wieder gab, um das Singen wieder zu aktivieren, helfen nach meiner Erfahrung nur punktuell. Ich nehme einen eher traurigen Trend wahr: immer mehr Kinder, die zu mir in den Chor kommen, können nicht mehr singen und haben Schwierigkeiten, Töne zu treffen und Melodien richtig zu singen. Mehr und mehr kommen raue und behauchte Kinderstimmen zu mir, die erst einmal gesunden müssen. Aber sie lernen es alle!

In meinen Proben ist mir die Stimmbildung allgemein und besonders das Wecken und Fördern des Kopfregisters, das ja ganz bedeutsam für jede Singstimme, aber besonders für die Kinderstimme ist, enorm wichtig. Da habe ich so einige spielerische Routinen, die über die Zeit durch ihre Regelmäßigkeit viel Positives bewirken. Eine ist ein einfacher Ton im Bereich der 2. Oktave, gesungen auf die Silbe »Nu« und begleitet von der Geste einer »Klangfontäne« über dem Kopf. Das rührt von der »Ward-Methode« her, und ist eine ganz schlichte aber wirkungsvolle Übung, die die Kinder sehr mögen. Das zweite ist das Arbeiten mit der relativen Solmisation in jeder Probe, die auch das differenzierte Hören einschließt. Auch dadurch lernen die Kinder von klein auf, sich im Tonraum singend zu orientieren. Und wir haben zwei tolle Stimmbildnerinnen im Team, die sich neben der Pflege und dem Ausbau der Stimmen meiner Chormitglieder auch mit rührender Geduld und viel Einfallsreichtum um die Kinder kümmern, die ihre Stimmen noch suchen. Es ist jedes Mal ein riesiger Glücksmoment für mich, wenn auch diese Kinder dann plötzlich den Dreh raushaben und sich in den Gesamtklang einfügen können!

Was erachten Sie als wesentlich, um Kinder und Jugendliche für das Singen und die Chorarbeit zu begeistern?

Zuallererst kommt meine eigene Begeisterung für das Singen allgemein, das Singen speziell mit den Kindern, die vor mir sitzen, und für die aktuellen Stücke. Wenn ich diese Begeisterung ausstrahle, kann ich sie in den allermeisten Fällen auch wunderbar weitergeben und die Kinder damit anstecken.

Dafür bin ich immer wieder gründlich und lange auf der Suche, um Stücke zu finden, die sowohl mich mit meinem musikalischen Anspruch als auch die Kinder und Jugendlichen gleichermaßen begeistern können. Auch Songs mit Choreografien kommen im Jugendchor richtig gut an, sie befriedigen auch den Bewegungsdrang vieler Kinder und machen gute Laune.
Natürlich gehört noch viel mehr dazu, vor allem eine gute und herzliche Atmosphäre und eine Gemeinschaft, in der sich jeder willkommen und gewertschätzt fühlt.

Ich versuche immer mehr, partizipativ zu agieren, die Kinder Feedback geben und mitbestimmen zu lassen. Sie dürfen sich Lieder wünschen oder auch bei anderen Fragen einfach ihre Ideen einbringen. Durch eine Umfrage hat sich zum Beispiel ergeben, dass sich die Kinder im Jugendchor nach 45 Minuten eine Pause wünschen, das machen wir seitdem – und es hat einen sehr positiven Effekt auf die Probe.
Für die Gemeinschaft verreisen wir und verbringen gemeinsam Wochenenden. Auch Freundschaften und Austausch-Treffen mit anderen Chören beleben unsere eigene Gemeinschaft ungemein. Eine wirklich wunderbare und lang bestehende Freundschaft haben wir mit dem Kehrwieder-Kinderchor in Söhlde im Landkreis Hildesheim, den wir nun schon seit 2012 kennen und seitdem immer wieder eingeladen oder besucht haben.
Ein besonderes Highlight sind auch Musical-Projekte, denn die Verbindung von Theater und Gesang lieben alle sehr und blühen in ihren Rollen und Soli auch noch einmal ganz anders auf. Sie wachsen musikalisch und sängerisch über sich hinaus. Daher gehören auch regelmäßig Musicals zu unserer Chorarbeit dazu.

Ein wichtiger Aspekt ist auch die Zeit, die Kinder brauchen, um ihren musischen Hobbys nachgehen zu können. Viele Babys gehen heute schon ab dem Alter von 12 Monaten in die Krippe, manche bis nachmittags. Einige sind dann vom aufregenden Tag unter vielen Kindern zu müde, um noch an einem Musikkurs teilzunehmen. Im Grundschulalter besuchen viele meiner Chorkinder am Nachmittag lange den Hort, für sie ist es anstrengend und stressig, um 16 Uhr beim Chor sein zu müssen, denn sie sind ebenso müde und erledigt von ihrem langen Tag. Andere Eltern arbeiten so lange, dass eine Anfangszeit um 16 Uhr gar nicht zu schaffen ist. Im Alter der weiterführenden Schulen stehen oft Hausaufgaben und das aufwändige Lernen für Schulaufgaben dem Probenbesuch im Weg.

Singen ist potenziertes Musizieren – immer agieren Sie auch mit Worten und Texten; mit Aussagen, die die Energie der Musik zusätzlich prägen. Wovon lassen Sie sich bei der Repertoire-Auswahl primär leiten: Von guter Musik? Von guten Texten? Was ist ausschlaggebend?

Das ist eine sehr gute Frage! Tatsächlich muss für mich beides stimmen, ein Stück mit einem guten Text aber qualitativ eher schwacher Musik sortiere ich genauso aus wie ein Stück mit toller Musik aber schlechtem oder inhaltslosem Text.
Zuerst schaue ich aber immer nach Stücken, die mich musikalisch ansprechen, und wenn das gegeben ist, nach dem Text. Ist dieser nicht nach meinen Vorstellungen, kann man ja immer noch etwas daran machen. Und so habe ich auch schon Stücke umgeschrieben.
Gute Texte im Zusammenhang mit der Chorarbeit mit Kindern sollten nicht kindisch sein, sie sollten aber verständlich oder zumindest gut vermittelbar, gerne poetisch und mit bildhafter Sprache und unbedingt mit Tiefgang sein. Denn gesungene Texte prägen sich viel stärker ein und werden oft in späteren Lebensphasen wieder an die Oberfläche gespült. Dann sollten sie auch noch Bestand haben können.

Gibt es eine Tradition, die Sie selbst prägt und die Sie weitervermitteln wollen?

Aus meinen Kindertagen leider nicht, denn ich habe nie im Kinderchor gesungen. Aber mich haben mich zwei Chorleiter sehr stark geprägt und für das Arbeiten mit meinen Kinderchören motiviert und inspiriert. Das ist LKMD Gerald Stier aus Dresden, Vater meiner Kommilitonin und Freundin Annegret Stier. Sie schwärmte schon zu Studienzeiten von seiner umfangreichen Kinderchorarbeit. Als ich dann auf meiner ersten Stelle war, bin ich öfters zu seinen Kinderchor-Aufführungen nach Dresden-Plauen gefahren, und war voller Bewunderung. Auch bei Proben habe ich hospitiert und viel dabei gelernt. Annegret selbst hat aus dieser Tradition heraus und mit viel Einfallsreichtum mit ihren Kinderchören in Löbau gearbeitet. Ihr habe ich viele schöne Chorsätze für den Kinderchor zu verdanken, die auch im Strube-Verlag erschienen sind.

Das zweite große Vorbild habe ich im ehemaligen Chorleiter-Ehepaar des Kehrwieder-Kinderchores aus Söhlde, Barbara und Hans-Dieter Lubrich, gefunden. Sie haben mir viel über ihre Philosophie hinter ihrer Chorarbeit, über viele kleine Bausteine, die bei ihnen über die Jahre zum Gelingen führten, erzählt, haben mir tausend Fragen beantwortet, viele Tipps zu tollen Stücken und Choraktionen gegeben und mir mit viel Interesse und Wertschätzung an unserer Arbeit zur Seite gestanden – bis zum heutigen Tag – dafür bin ich den beiden sehr dankbar. Mein Kinder- und Jugendchor in Wunsiedel wäre heute nicht der, der er ist, ohne das Ehepaar Lubrich!

Gibt es Stücke, die Sie anderen Kinder- oder Jugendchören empfehlen würden?
Haben Sie ein – oder mehrere Lieblingsstücke, die Sie immer wieder gern mit Kindern oder Jugendlichen einstudieren?

Oh ja: da habe ich eine lange Liste und mehrere prall gefüllte Ordner. Je zehn meiner liebsten Lieder im geistlichen und im weltlichen Bereich, die immer auch ein begeistertes Publikum haben, empfehle ich sehr gern. Im geistlichen Bereich sind das:
»Verleih uns Frieden gnädiglich« (Matthias Nagel)
»Vater Unser« (Arvo Pärt)
»Dona nobis Pacem« (Mary Lynn Lightfoot)
»Cantate Brasilia« (Roger Emerson)
»Bonse aba« (aus Sambia)
»O Magnum Mysterium« (Morten Lauridsen)
»Benedictus« (Karl Jenkins)
»I Have A Song To You« (Soul Teens)
»A little Jazz Mass« (Bob Chilcott)
»When love was born« (Mark Schultz)
– zum letzten Stück haben wir auch ein Video produziert.
Einige Klassiker von John Rutter lasse ich hier schweren Herzens außen vor, damit Platz für andere, vielleicht unbekanntere schöne Stücke ist. Hinzu kommt das Musical »Esther« von Gregor Breier und Alexander Lombardi, das bei der Aufführung 2014 meine Chorkinder und auf wundersame Weise auch das Publikum, und speziell einzelne Menschen darin sehr tief berührt hat, dass ehemalige Chormitglieder noch nach Jahren immer wieder von diesem Musical schwärmen.

Im weltlichen Bereich möchte ich diese Lieder und Songs empfehlen:
»One small voice« (Jeff Moss)
»Can you hear me« (Bob Chilcott)
»Mas que nada« (Jorge Ben)
»Sing, sing sing« (Louis Prima)
»The Rhythm of life« (Kanon nach dem Song von Coleman)
»Hello Django« (Uli Führe)
»Cubanita« (Eva Ugalde)
»Eternity« (Michael Bojesen)
»Metsa Telegramm« (Uno Naisso)
»Sound the trumpet« (Henry Purcell)
Als Bonus möchte ich hier auf mein 2023 im Strube-Verlag erschienenes Stimmbildungslied „Sing dich fit mit dem Wellermann“ hinweisen, das Inhalte der Stimmbildung mit einem Höhentraining verbindet, Spaß an der eingängigen Melodie macht und mit Bewegungen und Bodypercussion meinen Chorkindern wirklich viel Freude bereitet. Auch davon gibt es ein Video auf unserem Youtube-Kanal.

Was ist das schönste Lob und der größte Dank, den Sie für Ihre Arbeit als Chorleiterin erhalten?

Zwei der schönsten Momente sind mir erst kürzlich passiert – dass eine war mit einer Chorsängerin, die seit 12 Jahren, von der ersten bis zur 12. Klasse, im Chor war, bei zahlreichen Musicals mitgesungen und gespielt hat, bei zahlreichen Chorreisen dabei war, am Ende sogar eine Ausbildung zur Kinderchorleiterin bei mir absolviert und die kirchenmusikalische D-Prüfung erfolgreich bestanden hat. Eigentlich wollte und musste sie aus dem Jugendchor aussteigen, weil sie zum Studium nach Erlangen ging. Aber nach der Abschiedsprobe kam sie auf mich zu und sagte »Ich kann mich einfach nicht vom Chor trennen. Darf ich trotzdem weiter Mitglied bleiben, daheim für mich die Stücke üben, zu Probentagen am Wochenende kommen und bei Auftritten dann weiter mitsingen und auch zu Chorfahrten mitkommen?« Wie könnte ich dazu Nein sagen!
Das andere passierte nach einer Chorfeier Anfang des Jahres: ein Mädchen im Teenager-Alter, die im letzten Sommer nach 10 Jahren Mitgliedschaft im Chor aufgehört hatte, kam auf mich zu, ob sie wieder einsteigen dürfe – sie hatte den Chor so vermisst und das Zuhören bei Auftritten würde sich einfach »ganz falsch« anfühlen …
Für solche Momente hat sich alles Engagement der vergangenen 20 Jahren absolut gelohnt!

Das Gespräch mit Ulrike Schelter-Baudach führte Klaus-Martin Bresgott.

Fotos: Kulturbüro des Rates der EKD/Ralf Klöden