Julius Mauersberger

Chorleiter und Kantor, Pasewalk

Interview im September 2024 in St. Nikolai Pasewalk

Kantor/Chorleiter – war es Ihr Wunsch-Beruf? Was macht er für Sie aus? Ist er für Sie (auch) eine Berufung?

Ich glaube, dass eine Kantorin oder ein Kantor, der seinen Beruf nicht als Berufung betrachtet, einen wesentlichen Energieschub verschenkt.
Da ich als Kantor viele Fragen selbst entscheiden kann und muss, ist es sinnvoll in dieser Position immer Ideen und Visionen zu haben, die man gern verwirklichen möchte. Das bezieht sich auf das Umfeld, das ich erreichen möchte, auf die Programmauswahl und auf die Konzertformate, die vielfältig aufbereitet und präsentiert werden können.
Natürlich bringt jede Kantorin oder jeder Kantor seine eigene Prägung, seine Vorlieben und seine Begeisterung für bestimmte Stücke und Formate mit. Mit der Begeisterung für eine Sache wird der Beruf zur Berufung.

Der Kantorenberuf ist mit der Zeit mein Wunschberuf geworden. Das Musizieren hat in meiner Familie Tradition – auch wenn meine Familie nicht direkt mit den bekannten Brüdern Rudolf und Erhard Mauersberger verwandt ist. Dennoch sind alle meine Geschwister, meine Eltern und Großeltern hauptamtlich oder nebenamtlich als Musikerinnen, Musiker oder bildende Künstler tätig. Die meisten von ihnen sind im Theater oder Orchester.
Mein Großvater, seinerzeit Kapellmeister, hat mich mit Ehrgeiz und seiner eigenen Begeisterung für das Klavier an das Tastenspiel herangeführt. Meine Vorliebe für das Orgelspiel habe ich von meinem Vater, der hauptberuflich Sänger ist, mit auf den Weg bekommen. Und durch die Orgel war schließlich Kirchenmusik meine erste Wahl. Während des Studiums an der Hochschule für Musik »Franz Liszt« Weimar war ich stets mit den vielen anderen musikalischen Berufsgruppen in Kontakt. Die Vernetzung zu den Schulmusikern, Bläsern, Streichern, Sängern und Dirigenten hat die gegenseitige Wahrnehmung der Mentalitäten sehr gefördert.

Was waren Ihre Ambitionen beim Berufseinstieg?
Hatten Sie das Ziel, aktiv pädagogisch zu arbeiten, von Anfang an?

Es gehört bei den meisten Kantorenstellen zum Berufsbild, als Pädagoge zu arbeiten. Wenn man nicht ausschließlich für das Orgelspielen angestellt ist, beginnt die pädagogische Tätigkeit schon mit der ersten Chorprobe. Das sollte allen, die Kirchenmusik studieren, klar sein.
Als Mitglied des Gewandhauskinderchores in Leipzig und später des Jugendchores von Schulpforte waren mir Auftrittssituationen stets vertraut, die im pädagogischen Kontext einen wichtigen Anker für die Motivation zum Lernen bilden. In unserer pommerschen Kleinstadt Pasewalk habe ich zurzeit zwei Kinderchorgruppen, zwei Erwachsenenchöre – die Kantorei und ein Vokalensemble, einen Bläserchor und einige Jungbläserinnen und Jungbläser. Dazu gesellen sich verschiedene musikalische Zusatzangebote wie Kinderkonzerte, Theaterworkshops und -stücke, die meine Frau Gertrud Ohse einbringt. Sie ist als Gambistin und Cellistin freiberuflich aktiv. Ihr verdanke ich, dass wir mit dem von ihr gegründeten »Collegium für Alte Musik Vorpommern« immer ein professionelles, junges Barockorchester an der Seite haben, mit dem chorsinfonische Aufführungen auf sehr hohem musikalischem Niveau möglich sind.
Diese zusätzlichen Möglichkeiten erweitern das Bild der Musik in der Stadt noch einmal wesentlich. Sie schaffen weitere Möglichkeiten, Musik als kostbarstes Gut der Verständigung und des Verstehens öffentlich erlebbar zu machen und werten das Erscheinungsbild der Kirche und der Kirchenmusik vor Ort auf besondere Weise auf.

Wie verhält sich das pädagogische Ziel zum künstlerischen Anspruch als Musiker?

Das pädagogische Ziel der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ist zunächst einmal, dass sie eine gute Beziehung zur Musik und zur Kirche aufbauen. Dadurch kommen sie immer auch in Beziehung zu sich selbst und erfahren eine offene und gleichzeitig inhaltlich gebundene Gemeinschaft. Das ist Beziehungs- und künstlerische Arbeit. Beide gehen Hand in Hand.
Es ist wichtig, dass die Kinder und Jugendlichen gern kommen und mit Lust die Dinge lernen, die ich ihnen zeigen möchte. Ich weiß, dass ich sie nur ein Stück in die »Wunderwelt der Musik« – wie mein Großvater zu sagen pflegt – mitnehmen kann. Wer dort wirklich tief hineintauchen möchte, muss viel mehr Zeit als nur eine Probe in der Woche investieren. Das Chorsingen kann ein Grundstein dafür sein. Und die Kinder haben in der Schule genug Ansprüche und Ziele, die sie erreichen sollen und wollen. Auch dort wünschen sich alle, dass sie mit Freude bei der Sache sind.
Mein wesentlicher künstlerische Anspruch im pädagogischen Bereich lautet: »Mache es so gut, wie Du kannst! Das ist gut genug!« Ich mag dieses Credo, denn damit kommen immer wieder zauberhafte Ergebnisse zutage – ohne dass wir unter Druck stehen, ein vielleicht zu groß gesetztes Ziel erreichen zu müssen. Ich spüre ja während der Proben, wenn etwas tatsächlich zu schwer ist, und habe dann immer die Möglichkeit einzulenken. So wird der Auftritt mit großer Gewissheit schön und erfolgreich.

Als Musiker bekommen Sie unmittelbar Resonanz durch Konzerte und Aufnahmen. Als Pädagoge brauchen Sie einen längeren Atem – Sie säen und ernten die Früchte oft erst Jahre später. Wie ist ihre Erfahrung damit?

Auch Konzerte brauchen eine Regelmäßigkeit. Der einzelne Besucher geht zu einem Konzert, weil er Interesse und gerade Zeit hat. Wenn es ihm gut gefallen und er wieder Zeit hat, kommt er zum nächsten Konzert gern wieder. Andernfalls bleibt er zu Hause. Konzertpublikum muss – wie die Chorarbeit – aufgebaut werden. Beides dauert Jahre und ist kein Selbstläufer.
Ich selbst werde über die Zeit an vielen Erfahrungen reicher. Mein Lohn und mein Motor ist es, dass die Konzertbesucherinnen und Konzertbesucher schließlich die gleiche Dankbarkeit mitbringen wie die Chorsängerinnen und Chorsänger – die einen für die Konzerte, die anderen für deren Vorbereitung und schließlich den Erfolg, den sie ganz persönlich, aber auch als Gruppe erfahren und darin zusammen – und in den Konzerten immer wieder auch über sich hinauswachsen.

Was schätzen Sie an der Chorarbeit mit Kindern und Jugendlichen?
Welche besonderen Aufgaben sehen Sie hier?

Kinder und Jugendliche wollen sich ausprobieren. Sie sind offen und bereit, sich einzubringen, um herauszubekommen, was sie erreichen können. Sie sind neugierig und scheuen nicht die Anstrengung, das schätze ich.
Je nach Gruppenzusammensetzung können wir zunächst für einen Auftritt einige Lieder einstudieren. Aller Anfang ist dabei, zunächst einen gemeinsamen Ton zu finden und ihn zu treffen. Das ist für mich in meiner Lebenswelt selbstverständlich, für ein Großteil der Kinder aber eine ungewohnte Aufgabe, weil zuhause und in der Schule weniger gesungen wird, als in meiner Kindheit. Dieses Gefühl für die eigene Stimme und den Stimmsitz müssen wir erst gemeinsam lernen. Wenn die Kinder das gelernt haben, sind sie zurecht stolz darauf.
Im großen Kinderchor haben wir dann auch ein kleines Musiktheaterstück entworfen und aufgeführt. Das ist natürlich aufwändig und nur über den Zeitraum eines ganzen Schuljahres im Team zu erreichen. Dazu brauchen wir über die wöchentlichen Proben hinaus Engagement und Zeit: eine Kinderchorfreizeit, die die Gruppe immer fester zusammenschweißt, Requisiten, die wir selbst und unter Mithilfe der Eltern anfertigen, und vor allem ein selbst entworfenes Textbuch und die dafür passenden Lieder.

Nur über das Tun können die Kinder erfahren, welchen Spaß es macht, vor einem Publikum etwas zu spielen und zu singen. Und es erfüllt sie mit Stolz, wenn sie ihr Ziel erreichen. Das stärkt sie und füllt den Rucksack der guten Erfahrungen.

Was erachten Sie als wesentlich, um Kinder und Jugendliche für das Singen und die Chorarbeit zu begeistern?

Kinderchorarbeit heißt, doppelt guten Kontakt zu pflegen – zu den Kindern und zu den Eltern. Zwar sehe ich die Eltern entweder nur kurz, wenn sie ihr Kind bringen und holen, oder ich sehe sie gar nicht, weil das Kind allein kommt, aber ich halte die Eltern mit regelmäßigen e-Mails auf dem neuesten Stand. Ihre Unterstützung ist nötig, um den Kindern den nötigen zeitlichen, gedanklichen und emotionalen Freiraum dafür zu geben. Die Kinder und Jugendlichen sind, wenn sie die »Wunderwelt der Musik« als eigenen Erlebnisraum spüren, von sich aus gern dabei. Aber elterlicher und großelterlicher Zuspruch sind wichtige Garanten. Und ich selbst muss von der Sache begeistert sein, um andere zu begeistern. Eine Hilfestellung, die ich erst als Erwachsener kennengelernt habe, ist das Singen mit Handzeichen. Mit dieser Solmisation haben die Kinder beim Einstudieren eines neuen Liedes stets ein vertrautes Element aus dem eigenen Chor-Baukasten.

Außerdem nehme ich sehr gern Zusatzangebote wie den »Kinderchortag der Nordkirche« an, weil solche Termine einen ähnlichen Effekt wie Kinderchorfreizeiten haben: Sie stärken das Selbstbewusstsein der Gruppe und die Wahrnehmung und den Stolz der Eltern auf fröhliche, selbstwirksame Kinder.

Singen ist potenziertes Musizieren – immer agieren Sie auch mit Worten und Texten; mit Aussagen, die die Energie der Musik zusätzlich prägen. Wovon lassen Sie sich bei der Repertoire-Auswahl primär leiten: Von guter Musik? Von guten Texten? Was ist ausschlaggebend?

Oft habe ich das Problem, dass mir bei der Literaturrecherche der Text nicht gefällt. Entweder ist er viel zu lang, zu wenig witzig oder tiefgründig – oder er passt thematisch nicht zu dem, was uns gerade bewegt.
Da ich zurzeit in den zwei Kinderchören eher kleine Kinder habe, ist es wichtig, dass ich Melodien finde, die eingängig sind und die sie auf dem Heimweg noch summend nach Hause tragen.
Ein guter Text kann eine weniger gelungene Melodie auffangen. Andersherum funktioniert das meines Erachtens nicht so gut. Da sollte man lieber den Text verändern, bis er einem gefällt. Am schönsten ist der Fall, in dem Musik und Text einander ergänzen und die Melodie genau den Nerv trifft, den der Text verfolgt. Das sind dann die Lieder, die mich und auch die Kinder sofort in ihren Bann ziehen.

Gibt es eine Tradition, die Sie selbst prägt und die Sie weitervermitteln wollen?

Ich hatte in meiner Kindheit das Glück, in Leipzig und später während der Gymnasialzeit in Schulpforte in großen, ausgesuchten Chören zu singen, die anspruchsvolle Chorliteratur sangen. Mein Traum ist es, auch hier etwas davon vermitteln zu können – angepasst an unsere Möglichkeiten hier vor Ort. Das Modell hier in Pasewalk ist, dass die Jugendlichen schon mit 14 Jahren in die Kantorei wechseln. Die Jugendlichen haben dadurch keine eigenständige Übergangsphase. Aber sie haben den Luxus als junge Menschen gleich die großen Chorwerke aus dem eigenen Tun heraus kennenzulernen: das »Weihnachtsoratorium« von Johann Sebastian Bach oder das »Oratorio de Noël« von Camille Saint-Saëns, das wir in diesem Jahr singen – oder das »deutsche Requiem« von Johannes Brahms, das wir 2025 in Kooperation mit zwei weiteren Kantoreien aufführen wollen.
In jedem Fall sind Johann Sebastian Bach und Felix Mendelssohn Bartholdy nicht nur für mich als Leipziger wichtige Namen. Mit dem kleineren Vokalensemble widmen wir uns vor allem der Tradition der Alten Meister vom Lied und Madrigal bis zur Motette von Heinrich Schütz oder Johann Hermann Schein. Ebenso gern singen wir die klassische Moderne mit Hugo Distler, Marcel Dupré oder schließlich Jürgen Golle. Alles das ist Musik, die einem beim bloßen Gedanken an die Kompositionen positive Lebensenergie gibt.
Für die Advents- und Weihnachtszeit greife ich immer wieder gern zum »Weihnachtsliederbuch des Thomanerchores Leipzig«, das Diethard Hellmann und Georg Christoph Biller herausgegeben haben und für jeden Schwierigkeitsgrad etwas bereithält. Damit verknüpft sich für mich viel lebendige Tradition.

Gibt es Stücke, die Sie anderen Kinder- oder Jugendchören empfehlen würden?
Haben Sie ein – oder mehrere Lieblingsstücke, die Sie immer wieder gern mit Kindern oder Jugendlichen einstudieren?

Ich finde viele Kanons von Uli Führe sehr schön zum Einstieg und Auflockern. Auch die Publikation »Mehrstimmigkeit im Kinderchor« von Matthias Stubenvoll macht viel Spaß und die Ideen von Christiane Wieblitz in »Lebendiger Kinderchor« sind einfach toll. Eine schöne Anregung ist für mich bis in die schöne Aufmachung hinein ist das vielseitige »Liederprojekt« vom Carus-Verlag.
Seit einigen Jahren vernetzen sich einige überregionale Chorleiterinnen und Chorleiter mit Professorinnen und Professoren und bringen schöne Sammlungen der Kinderchorliteratur heraus. Da entstehen viele gute Ideen.
Am Ende muss jede Chorleiterin und jeder Chorleiter etwas finden, was ihn begeistert. Dann werden die Kinder ihnen diese Begeisterung spiegeln.

Was ist das schönste Lob und der größte Dank, den Sie für Ihre Arbeit als Chorleiter erhalten?

Das schönste Lob ist der Moment, in dem die Kinder stolz auf sich sind und auf das, was sie geschaffen haben. Das ist der Moment nach einem Auftritt, in dem sie glücklich über die Musik und ihr Singen sind und ihr Strahlen die Welt schöner macht.

Das Gespräch mit Julius Mauersberger führte Klaus-Martin Bresgott.

Fotos: Kulturbüro des Rates der EKD/Ralf Klöden