KMD Gijs Burger

Gründer und langjähriger Leiter der Singschule an der Petrikirche Mülheim an der Ruhr, Coach und Referent für Kinder- und Jugendchorarbeit

Interview in Mülheim an der Ruhr im März 2024

Kantor und Chorleiter – war es Ihr Wunsch-Beruf? Was macht er für Sie aus? Ist er für Sie (auch) eine Berufung?

Als es im Abitur zwangsläufig ernst wurde mit der Berufswahl, stand ich zunächst vor einer Kreuzung und damit vor einer schwierigen Entscheidung: Maschinenbau? Architektur? Oder Musik? Der Maschinenbau faszinierte mich schon immer, weil ich ein Tüftler und Entwickler bin. Die Architektur reizte mich, der ich in den Niederlanden zwischen den Bautraditionen bedeutender Nationen aufwuchs, nicht minder. Am Ende wurde es die Musik – und ich habe hier alle Faszination der anderen möglichen Wege integrieren können. Denn das Tüfteln und Entwickeln war für den Aufbau der Singschule – und damit meine ich ganz konkret das dafür wieder neu erbaute Haus und seine Funktionalität – sehr wichtig und hilfreich. Und die Liebe zur Architektur, zum Bauen und Gestalten, war und ist mir bei jedem neuen Konzertprogramm eine wichtige Stütze – sie lehrt Gleichgewicht und Struktur, Aufbau und Symmetrie – ob im Einklang oder im Kontrast.

Der Auslöser für die Entscheidung zur Musik war ganz konkret: Es war eine Schallplatte der wunderbaren Organistin und Pianistin Jeanne Marie-Madeleine Demessieux. Darauf spielte sie den grandiosen »Deuxième Choral« von César Franck auf der Orgel der berühmten Pfarrkirche La Madeleine in Paris. Immer, wenn die Familie außer Haus war, legte ich die Platte auf, drehte auf und war glücklich …
Zunächst faszinierte mich also die Orgel, ich studierte am ArtEZ Conservatorium Zwolle in meinem Heimatland, wurde ein passionierter Organist und legte auf diesem Instrument auch mein Konzertexamen ab. Erst während des Studiums kam ich so richtig mit Chormusik und der Chorleitung in Kontakt, war zunehmend davon fasziniert und begann darum im Anschluss, Kirchenmusik zu studieren.

Was mich so besonders beeindruckte, war die Kombination aus Musik und Text, aus Klang und Wort, also gleichermaßen die Vielgestalt wie die Konkretion der Aussage. Chorkonzerte aus der Kombination konkreter Texte heraus können so viel mehr sagen und in uns öffnen, als wenn nur musikalische Werkgruppen wie zum Beispiel alle Triosonaten dieses oder jenes Komponisten nacheinander aufgeführt werden. Solche Konzerte habe ich früher Telefonbuch-Konzerte genannt …

Was waren Ihre Ambitionen beim Berufseinstieg?
Hatten Sie das Ziel, aktiv pädagogisch zu arbeiten, von Anfang an?

Schon während des Studiums unternahm ich Reisen nach England und war hingerissen von den dortigen Kathedralen und ihrer großartigen Chorarbeit. Die Art und Weise, wie dort musiziert wurde – oder auch, was Maarten Kooy am Utrechter Dom St. Martinus jeden Sonntag auf die Beine stellte – waren mit diesem regelmäßig hohen Niveau und dem damit verbundenen Gänsehautfaktor, der sich immer wieder bei mir einstellte, Ziel meiner eigenen Arbeit. Dort war Pädagogik selbstverständlich integriert in jegliche musikalische Arbeit.

In chorischer Hinsicht war das dort Erlebte mit den eigenen örtlichen Gegebenheiten natürlich nicht vergleichbar. Aber ich habe dieses Ideal nie aus den Augen und Ohren verloren – und es hat mich ermutigt und bewogen, unsere Singschule auf die Beine zu stellen, sie bis in die souveräne Eigenständigkeit zu führen und mich immer wieder an diesem Ideal zu orientieren.

Wie verhält sich das pädagogische Ziel zum künstlerischen Anspruch als Musiker?

Wenn ich mich ernsthaft der Chorleitung verschreibe, bin ich immer auch pädagogisch tätig. Mein Instrument sind Menschen. Das ist etwas ganz anderes als die Tasten einer Orgel oder eines Klaviers.
Alles Werden und Gestalten, aller Erfolg ist gemeinsam und von allen abhängig – nicht nur von meinem Fleiß und meinem Willen oder Geschick.

Das große Glück ist, dass man mit Kindern, wenn man sie erreicht und begeistert, seine musikalischen Ziele unglaublich schnell erreichen kann. Das ist mit Erwachsenen keinesfalls leichter. Woran das liegt, ist in jeder Chorprobe spürbar: Kinder können einfach unglaublich schnell lernen. Und sie wollen lernen! Sie haben innerlich Raum. Und Kraft! Und Lust! Und was man mit ihnen aufbauen kann, ist bei guter Beständigkeit phänomenal. Silvère van Lieshout, Direktor der Academy of Vocal Arts in Den Haag, sagte mal: »Wenn Sie mit einem professionellen Chor arbeiten wollen, gründen Sie einen Kinderchor.« Wie recht er hat!

Als Musiker bekommen Sie unmittelbar Resonanz durch Konzerte und Aufnahmen. Als Pädagoge brauchen Sie einen längeren Atem – Sie säen und ernten die Früchte oft erst Jahre später. Wie ist ihre Erfahrung damit?

Mit Kindern säen und ernten Sie fast gleichzeitig – so schnell und so gut sind sie in dem, was man von ihnen verlangt, wenn es zu einem gemeinsamen Anliegen wird. Denn gut geführte Kinder- und Jugendstimmen sind großartig und lassen sich auf alles ein, was sie nicht verbiegt. Ein guter Kinderchorklang an sich ist schon ein großes Ziel und eine beglückende Erfahrung für alle, die ihn hören und genießen können. Nicht umsonst haben viele Dome und die englischen Kathedralen eigene Kinder- und Jugendchorschulen, die dort regelmäßig miteinander arbeiten und auftreten. Diese Ausbildung ist eine wunderbare Schule für die Stimmen und Charaktere der Kinder und Jugendlichen mit einem großen, besonderen Klangerlebnis und bildet später, vor allem in den Männerstimmen, die Grundlage für viele semiprofessionelle und professionelle Ensembles und Chöre. Leider ist dieses intonatorisch oft einzigartige, klare Klangbild im Bewusstsein vieler Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker noch nicht angekommen. In den klassischen Hochschulen dreht sich vieles hauptsächlich um die Orgel. Das wird vor allem dadurch begünstigt, dass in der Aufnahmeprüfung ein elementarer Schwerpunkt auf das Fach Orgel gelegt wird. Dadurch sind die Studierenden sehr darauf fokussiert. Gut klingende Kinder- und Jugendchöre sind unter dem Radar und/oder nicht bekannt, weil sich mit ihnen nicht unmittelbar große Aufführungen klassischer Werke verbinden lassen. Man denkt zumeist über das Repertoire statt über den Klang … Deswegen wird auch noch zu selten ein wirkliches Interesse daran entwickelt und aktiv gefördert.

Beim Hören des King´s College Choir beispielsweise herrscht in der Regel die Meinung, dass dort nur handverlesene Jungenstimmen zu Gehör kommen. Das dachte ich anfangs auch. Aber das ist Unfug. Denn inzwischen weiß ich: Das kann prinzipiell so gut wie jedes Kind! Man muss ihm nur den Weg weisen. Dann springt die Begeisterung über. Wenn man diesen Aufwand nicht scheut, kann man in seiner eigenen kirchenmusikalischen Praxis einen ähnlich guten Chor aufbauen mit einem derart reinen und berührenden Klang. In einer Notsituation im Sopran meines Kammerchores habe ich beispielsweise zwei 11-jährige Mädchen frühzeitig in den Chor integriert und damit den schönsten, ausgewogen gemischten Sopranklang überhaupt erreicht. Dabei wurde mir einmal mehr deutlich: Was ist schöner, als wenn schon Jugendliche selbst einbezogen und musikalisch umfangreich integriert werden? Wenn sie in der Linienführung selbst Führung übernehmen und so im singenden und hörenden Dialog mit den anderen Stimmen musikalisch-musikantisch selbständig werden?

Meine Einstellung und meine Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen hat sich mit der Erarbeitung der ersten Singspiele entwickelt und gewandelt. Im Vorfeld der Aufführungen hatte ich mit den jungen Solistinnen und Solisten jeweils vier Wochen vorher begonnen, die Partien sängerisch und musikalisch zu erarbeiten. Was dabei herauskam, verblüffte und elektrisierte mich gleichermaßen. Die Kinder waren so schnell und gut, dass sie die meisten erwachsenen Chorsängerinnen und -sänger sängerisch binnen dieser kurzen Zeit deutlich überholt hatten. Die Entdeckung und Wahrnehmung dieses Potentials war die Geburtsstunde der von mir aufgebauten Singschule. Und die so von mir zusätzlich geförderten Kinder wirkten wie Sauerteig auf den gesamten Chor: ihre Qualität färbte auf die anderen Kinder ab, ermunterte sie mitzugehen – und so verbesserte sich der Chor von Jahr zu Jahr und eröffnete immer neue Möglichkeiten.

Was schätzen Sie an der Chorarbeit mit Kindern und Jugendlichen?
Welche besonderen Aufgaben sehen Sie hier?

Besonders im Grundschulalter sind Kinder wie ein trockener Schwamm. Sie saugen alles auf, sind begeisterungsfähig und offen. Sie wollen lernen, besser werden, mehr singen, anderes singen … Bereits mit Achtjährigen singen wir Mendelssohns Hymne »O fort he wings of a dove« (»O könnt ich fliegen wie Tauben dahin«) – und sie lieben es! Sie bis dahin und schließlich weiterzuführen ist für mich das Schönste an meinem Beruf.

Die Reinheit des Klanges, seine überirdische, zarte Kraft, berührt unmittelbar. Dabei ist erstaunlich, wie intuitiv die Kinder noch sind, wie sie musikalisch fühlen und Bögen und Linien spüren, die ich mit Erwachsenen vielfach erst einstudieren und für sie sichtbar machen muss. So ist es ganz normal, dass in unseren Gottesdiensten, unseren Evensongs und Konzerten Tränen fließen, weil die Kinder uns klingend zu berühren wissen und wir wieder weich und offen werden für Wesentliches.

Insofern erachte ich die Ausbildung von Kindern und Jugendlichen als die pädagogische Hauptaufgabe von Kantorinnen und Kantoren schlechthin. Es beschert reiche und doppelte Ernte – auch damit, dass die Eltern, die ihre Kinder so konzentriert und bewegt hören und sehen, auch selbst wieder Mut und Lust bekommen zu singen – und damit die Erwachsenenchöre verjüngen.

Man denke nur an Johann Sebastian Bach, um zu erinnern, dass die Aufgabe der musikalischen Bildung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen früher und über Jahrhunderte hinweg wesentlicher Bestandteil des Berufes der Kantorinnen und Kantoren war. Das sollten wir wieder verbindlich einführen – die Kirchen wären wieder voller, die Kinder könnten eine ihrer schönsten Gaben in sich entdecken und ausleben – und sich und uns damit beschenken.

So oder so besteht die besondere Aufgabe darin, die Kinder und Jugendlichen darin zu bestätigen und zu bestärken, dass sie ihren Aufgaben gewachsen sind – auch vermeintlich großen. Zutrauen schenken – das hilft fürs Leben – und wirkt in jedem Konzert Wunder.

Was erachten Sie als wesentlich, um Kinder und Jugendliche für das Singen und die Chorarbeit zu begeistern?

Am wichtigsten finde ich, die Kinderstimme in ihrer Lage freizulegen und zur Entfaltung kommen zu lassen. Darin liegt ihre Stärke. Viel zu oft brubbeln wir den Kindern etwas in viel zu tiefen Lagen vor und sie suchen drückend und rufend nach ihrer eigenen Stimme … Die beste Lage der Kinderstimmen ist aber Es² bis G² – da entwickelt sie ihre Farbe und Intensität fast von allein und findet dann den Weg in den Körper. In England heißt es »Singing with children is singing high g´s« (»Singen mit Kindern heißt hohe Gs zu singen«) – das ist dieses Leuchten, das wir staunend wahrnehmen.

Wenn wir über diese Möglichkeit, die eigene Stimme zu entdecken und damit Teil eines Chores und eines Chorklangs zu werden, die Kinder an gute Literatur heranführen, sind sie in der Regel mit dem Singvirus infiziert. Wenn sie dabei schließlich auch auf eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten treffen und hier – auch Dank vieler Reisen und Freizeiten – neue Freunde finden, dann kommen sie, um zu bleiben – oft bis über das Abitur hinaus …

Singen ist potenziertes Musizieren – immer agieren Sie auch mit Worten und Texten; mit Aussagen, die die Energie der Musik zusätzlich prägen. Wovon lassen Sie sich bei der Repertoire-Auswahl primär leiten: Von guter Musik? Von guten Texten? Was ist ausschlaggebend?

An erster Stelle steht für mich substanzielle Musik. Ich will das Leben meines Gegenübers ja durch ergreifende musikalische Erfahrungen bereichern. Das, was mich selbst an Musik begeistert, möchte ich weitergeben – die Kinder und Jugendlichen sollen es für sich mitbekommen und selbst gestaltend in sich aufnehmen und nutzen. Der Schatz der Kirchenmusik ist so gewaltig – den kann ich den Kindern unmöglich vorenthalten. Und aus Erfahrung weiß ich, wie der Schatz in ihnen ein neues Zuhause findet. Wenn ich zum Beispiel ankündige, dass wir Mendelssohns »Hear my prayer« (»Hör mein Bitten«) oder »Laudate pueri« (»Lobet ihr Knechte«) singen werden, jubeln sie.

Es gibt aber auch den umgekehrten Fall, dass ich Stück zunächst über den Text auswähle, um einem Programm besondere Intensität oder einen wichtigen Aspekt zu verleihen – beispielsweise Benjamin Brittens »Advance Democracy« (»Stärkung der Demokratie«) oder John Rutters »Ukrainian Prayer« (»Ukrainisches Gebet«). Genauso kommt es vor, dass mich die Texte davon abhalten, bestimmte Stücke aufzuführen. Viele barocke Osterwerke gehören dazu, in denen immer vom heldenhaften Sieg die Rede ist.

Und dann gibt es natürlich auch Stücke, bei denen ich mit den Texten ringe … beispielsweise habe ich mich lange vor der Einstudierung der Choräle von Bachs »Matthäus-Passion« gedrückt, ebenso vor dem Chorsatz »Fürchte dich nicht« aus dem zweiten Teil des »Elias« von Felix Mendelssohn Bartholdy. Erst ein Vortrag des Theologen und Musikers Harald Schoether-Wittke über den »Elias« hat bei mir einige elementare Barrieren abgebaut.

Mit dem Text von John Irelands »Ex ore innocentium« (»Aus dem Mund der Kinder«) habe ich anfangs sehr gehadert und lange überlegt, ob ich es mit den Kindern singen kann oder nicht. Irgendwann habe ich entdeckt, dass es hier – wie in wahrscheinlich allen Stücken von John Ireland – zentral um das Thema der Liebe geht. Seither führen wir es jedes Jahr an Gründonnerstag auf und niemand möchte es missen.

Ungeachtet dieser Beispiele gibt es eine Unmenge kirchlicher Gebrauchsmusik, um die ich einen großen Bogen mache. Sie einzustudieren, hieße, die Kinder und Jugendlichen mit Banalitäten zu füttern und ihnen wirklich Gutes, Substanzielles vorzuenthalten. Das kann ich unmöglich übers Herz bringen.

Gibt es eine Tradition, die Sie selbst prägt und die Sie weitervermitteln wollen?

Die stärkste Prägung habe ich wohl durch die englischen »Evensongs« erfahren. Die Kombination von starker, zugleich strenger Form, gemeinsam von Kindern und Erwachsenen ausgeführt, hat mich in der zusätzlichen engen Verbindung von Text und Musik immer sehr fasziniert. Ich habe diese Form in meiner Arbeit übernommen und hatte daher das Glück, sie selbst auszukosten und mit dem Jungen- und dem Kammerchor viele »Evensongs« zu gestalten. Dabei war es selbstverständlich, dass Kinder und Jugendliche Solopartien übernahmen. Mit dem Durchdringen der englischen Chortradition habe ich deren hohe Qualität zu schätzen gelernt und versucht, ihre Prinzipien auch in unsere Singschule einzubringen. Das heißt: an erster Stelle steht eine gute Ausbildung. Alle lernen schnell, mit Noten umzugehen und vom Blatt zu singen. Sie lernen Musik zu verstehen und zu gestalten.

In England ist es für viele Chöre völlig normal, an jedem Sonntag zu singen – manchmal sogar zweimal. Wenn ich hier davon erzähle, ernte ich Erstaunen und Bedenken … aber was daran wesentlich ist, nämlich die Form regelmäßiger Praxis, ändert das Verhältnis von Proben und Aufführungen massiv. Aus: wir proben, proben, proben … und führen schlussendlich nur ein oder zwei Mal auf, wird ein kurzer Wechsel von Probe und Aufführung, Probe und Aufführung … das ändert die Motivation, hält den Spannungsbogen, nimmt Lampenfieber und potenziert die Eigenverantwortung des Chores als Gemeinschaft, die sich selbst für den Auftritt verantwortlich empfindet und nicht den Chorleiter dafür verantwortlich macht.
Mehrfach ließen mich englische Kathedralchorleiter an ihren Erfahrungen teilhaben und erzählten, dass der Schlüssel einer hohen Chorqualität einerseits regelmäßige Aufführungen andererseits eine zyklische Wiederholung des Repertoires sei. Das widersprach zunächst meiner Vorstellung von immer Neuem und der universitären Erfahrung von vielen, vielen Proben, ehe ein Stück an die Öffentlichkeit darf … Aber mit der Zeit habe ich selbst erfahren, von welcher Qualität dieser »englische Schlüssel« auch für meine eigene Arbeit wurde.

Die Kinder und Jugendlichen der englischen Kathedralchöre proben täglich und haben mehrere Aufführungen pro Woche – das ist natürlich nicht mit unserer Realität zu vergleichen. Mein Ansatz, ähnliche Gegebenheiten zu schaffen, mündete schließlich darin, dass ich versucht habe, zum Beispiel mit den Mädchen wenigstens ein Mal im Monat aufzutreten. Beim Repertoire habe ich wiederum bei den Jungen einen etwa eineinhalbjährigen Zyklus eingeführt, in dem ich das Repertoire wiederhole. Das hat den Effekt, dass ein Teil des Chores die Stücke immer schon kennt und den anderen Teil des Chores singend mitnehmen kann.

So ging und geht es auch für mich auf – es schafft ein großes gemeinsames Repertoire, das immer wieder problemlos abgerufen werden kann, und es ermöglicht, dass der Chor immer einsatzfähig ist. Die regelmäßige Einstudierung neuer Werke und größerer Aufführungen von Singspielen oder KInderopern, die immer ein Fest werden, weil sie die Gewerke des Schauspiels, des Bühnenbildes, des Lichts und vieler anderer Komponenten mit einbinden, geschieht unabhängig davon.

Gibt es Stücke, die Sie anderen Kinder- oder Jugendchören empfehlen würden?
Haben Sie ein – oder mehrere Lieblingsstücke, die Sie immer wieder gern mit Kindern oder Jugendlichen einstudieren?

Aber ja – es gibt etliche Stücke, mit denen die Kinder und Jugendlichen aus der Arbeit der vergangenen 30 Jahre viel verbinden – und natürlich auch ich. Das wären unter anderem das schon angesprochene »Ex ore innocentium« von John Ireland, die »Peace Mass« von Bob Chilcott, Benjamin Brittens »Missa brevis«, Andrew Carters »Missa brevis«, »Thou will keep him in perfect peace« von Samuel Sebastian Wesley, »Teach me, o Lord« von William Byrd oder die »Evening Services« von Charles Villiers Stanford, allen voran den in G mit dem wunderschönen Sopran-Solo, aus der englischen Tradition.

Dazu kommen gleichrangig besondere Werke des deutschen Frühbarock wie »Nun komm, der Heiden Heiland« von Johann Hermann Schein und »Erhöre mich« von Heinrich Schütz, »Fürchtet euch nicht« von Andreas Hammerschmidt, »Puer natus in Bethlehem« von Michael Praetorius und viele romantische Werke, vor allem von Felix Mendelssohn Bartholdy, beispielsweise sein »Hear my prayer« oder »How lovely are the messengers« (»Wie lieblich sind die Boten«) aus dem »Paulus«.
Großen Spaß machen natürlich immer auch Singspiele – aber da muss jede Chorleiterin und jeder Chorleiter selbst sehen, welche Gruppe und welche Möglichkeiten sie oder er hat – und wie man auch auf Unterstützung durch die Eltern und Freundeskreise hoffen und bauen kann, um daraus eine tolle Aufführung werden zu lassen. Wir haben unter anderem ein tolles Werk von Dieter Schnebel zur Uraufführung bringen können – »Luther 500« – oder auch, in von mir arrangierter Fassung, Mozarts »Zauberflöte« – um nur zwei zu nennen. Wen es interessiert, findet Mitschnitte davon auf YouTube (Schnebel: Luther 500 | Kinderoper Die Zauberflöte Nov. 2019, Singschule, Petrikirche Mülheim an der Ruhr).

Was ist das schönste Lob und der größte Dank, den Sie für Ihre Arbeit als Kantor und
Chorleiter erhalten?

Dazu braucht es nicht viel, aber wesentliches: Glückliche Kinder und Jugendliche, die im Singen aufgehen und damit die Zuhörenden beglücken.

Die Situation hat sich leider durch Corona und die Gefährdungs-Zuschreibungen an das Singen drastisch verschärft. Es gibt in den Grundschulklassen viel Lese-Rückstand, das Singen ist ins Abseits geraten, das Resultat ist eine schleichende Verstummung. In den Familien wird immer weniger, oft gar nicht mehr gesungen. Deswegen fehlt vielen Kindern diese Erfahrung als gemeinschaftlicher und individueller Wert. Oft haben sie noch nie selbst gesungen, ehe sie zu uns kommen, oder sie sind verblendet von der scheinbaren Perfektion der Musik in den Medien. Sie ahnen nicht, wie da getunt und gesampelt wird … Umso mehr erfahren sie bei und mit uns, wie schön es ist, es selbst zu tun, eine ganze Phrase zu singen, den Bogen und dabei den Atem und den eigenen Körper, schließlich die ganze Gruppe wie eins zu spüren … so haben wir eine doppelt schöne und wichtige Aufgabe. Eine Aufgabe, die erfüllt.

Das Gespräch mit KMD Gijs Burger führte Klaus-Martin Bresgott.

Fotos: Kulturbüro des Rates der EKD/Ralf Klöden