Ulrike Pippel

Kinder-Jugend-Kantorin im Kirchenbezirk Leipzig an der evangelisch-lutherischen Kirchgemeinde im Leipziger Süden.

Interview in Leipzig im Oktober 2023

Liebe Frau Pippel:
Kantorin und Chorleiterin – war das Ihr Wunsch-Beruf? Was macht er für Sie aus? Ist er für Sie (auch) eine Berufung?

Der Wunsch war mir nicht in die Wiege gelegt. Es gibt keine familiäre Tradition oder frühkindliche Prägung – Choralmelodien haben nicht meine ersten Schritte begleitet. Ich komme aus einem kleinen thüringischen Ort, von wo aus ich als Kind und junge Erwachsene immer in die Stadt zum Chor fuhr, der von einem fantastischen Kantorenehepaar geleitet wurde. Diese Menschen, ihre Art, gute Musik zu machen, eine Gemeinschaft zum Klingen zu bringen und damit eine lebendige Gemeinschaft zu stiften, hat mich entscheidend geprägt. Mit etwa 15/16 Jahren wurde mir plötzlich bewusst, was ich daran habe – als ich beim Jugendchorsingen das Gefühl hatte: Ja: genau das möchte ich selbst einmal tun! Vielleicht war diese Erleuchtung auch irgendwie eine Berufung?! Auf alle Fälle hat dieses Erleben mich auf meine berufliche Bahn gebracht. Und ich habe bis heute das Gefühl, genau das Richtige zu tun.

Was waren Ihre Ambitionen beim Berufseinstieg?
Hatten Sie das Ziel, aktiv pädagogisch zu arbeiten, von Anfang an?

Meine wesentliche Ambition erwuchs aus dem eigenen Erleben und der darin wurzelnden Kraft: ich möchte Gemeinschaft und Freude am Musizieren an junge Menschen weitergeben. Ich möchte die Energie meiner eigenen Erfahrung weitergeben und spürbar machen als Kraftquelle der Freude. Dafür gibt es nichts Schöneres, nichts Berührenderes als Musik – als Motivation, als Halt, als Balance … das zu vermitteln – und das heißt: pädagogisch zu arbeiten war und ist mir sehr wichtig und wesentlich für mein Verständnis als Chorleiterin und Kantorin.

Wie verhält sich das pädagogische Ziel zum künstlerischen Anspruch als Musikerin?

Das pädagogische Ziel und der künstlerische Anspruch sind nicht voneinander losgelöst – im Gegenteil: sie sind eng miteinander verbunden. Je mehr Menschen beteiligt sind, desto höher kann ich meist auch meine künstlerischen Ziele stecken. Je stabiler der Klangkörper, je vielfarbiger der Klang, desto leichter sind auch die Kinder und Jugendlichen von der Sache selbst überzeugt. Dann muss ich gar nicht viel Überzeugungsarbeit leisten. Das ist ein Knackpunkt meiner Arbeit. Kommen viele, gelingt viel.
Aber wie begeistere ich junge Menschen, dabei zu sein, mitzumachen und regelmäßig zu kommen? In der heutigen Zeit und der Fülle der Alltagsansprüche, die auf die Kinder und Jugendlichen einprasseln, ist das keine leichte Aufgabe – insbesondere, wenn man neben dem Schulstress den Freizeitstress der Kinder und Jugendlichen erlebt. Sie haben keine Mußezeit mehr, keinen Spielraum, weil ihre Zeit durchgetaktet wird in der Sorge, kein Bildungsangebot zu verpassen und die Kinder und Jugendlichen fit zu machen für die Zukunft.
Mein künstlerischer Anspruch basiert auf dem Ausgleich und der Bereitstellung eines Raumes der Freude und guter Erfahrung – dass die Kinder in dem Maße mitsingen, wie es ihnen möglich ist. Da ist mir ein begeistertes sechsjähriges Kind, dass noch nicht jeden Ton trifft, wertvoller, als eines, dass jeden Ton sauber singen kann, aber keine Freude dabei empfindet. Insofern basiert aller künstlerische Ansatz auf der Vermittlung. Alles künstlerische Gelingen setzt innere Bereitschaft und Freude voraus, für die ich einen Raum schaffen will. Dann kommt die Entwicklung beinahe von allein.

Als Musikerin bekommen Sie unmittelbar Resonanz durch Konzerte und Aufnahmen. Als Pädagogin brauchen Sie einen längeren Atem – Sie säen und ernten die Früchte oft erst Jahre später. Wie ist ihre Erfahrung damit?

Die unmittelbare Resonanz bleibt von Anfang an nicht aus. Schon die ersten Schritte sind ja mit ersten Zielen und kleinen Aufführungen verbunden.
Natürlich, man muss in jedem Schuljahr neu schauen, mit welcher Gruppe man es zu tun hat, wo man sie künstlerisch abholen muss und wohin der Weg mit ihr führen kann. Aber das hat immer auch einen Reiz. Es ist immer ein Neuanfang, eine neue Chance. Dabei ist die Planung und Entwicklung bis hin zur kleinsten Aufführung auch einfach von einem großen gegenseitigen Vertrauen abhängig, dass sich alles behutsam, aber stetig entwickelt und reift, bis der Tag des Konzertes vor der Tür steht.

Was schätzen Sie an der Chorarbeit mit Kindern und Jugendlichen?
Welche besonderen Aufgaben sehen Sie hier?

Künstlerisch gesehen ist die Arbeit mit jungen Stimmen ein Musizieren mit besonderer Strahlkraft. Sie ist geprägt von besonderer Authentizität, vom Wecken all´ der Möglichkeiten und Fähigkeiten, die Kinder und Jugendliche in sich tragen und erst einmal keine Ahnung davon haben. Sie beginnen, sich selbst zu spüren und zu erleben. Ich kann sie dabei unterstützen.
Außerdem bekomme ich als Pädagogin von Kindern und Jugendlichen ganz unmittelbare, unverstellte und natürliche Rückmeldungen. Das ist sehr lehrreich, hinterfragt mich und meine Arbeit auf ganz offene Art und Weise und bringt viel Freude mit sich.
Als besonders tragend und prägend empfinde ich die soziale Komponente des Kinder- und Jugendchorsingens. Deshalb sind neben der künstlerischen Arbeit in der wöchentlichen Probe vor allem Ausflüge, Projekte und Chorfahrten wichtig und elementar für das Erleben und die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen. Als individuelle Persönlichkeiten erfahren sie den Wert und die Wichtigkeit von Gemeinschaft, die in der Musik auf natürliche Weise hergestellt wird, indem alle dasselbe tun: singen.

Was erachten Sie als wesentlich, um Kinder und Jugendliche für das Singen und die Chorarbeit zu begeistern?

Etwas fundamental Wesentliches ist der Zeitfaktor. Das gilt für alle – für Kinder wie für Erwachsene. Um als Chor zusammenzuwachsen, muss man zusammen wachsen – dafür ist eine regelmäßige Probenteilnahme total wichtig. Sonst fühlt man sich nie richtig zugehörig. Das ist aber vor allem ein Appell an die Eltern.
In der eigenen Arbeit als Chorleiterin genügt es nicht, die Proben einfach nur solide durchzuführen. In die Kinder- und Jugendchorarbeit muss man ziemlich viel Herzblut investieren, muss Beziehungsarbeit leisten, Begeisterung vermitteln, ansteckend sein, um die Eltern dazu zu gewinnen, ihre Kinder immer wieder zu ermuntern, sich dieser gemeinsamen Arbeit zu stellen und damit eine gute Gruppenentwicklung zu befördern. Der Preis sind gelingende und bewegende Aufführungen. Die musikalische Entwicklung der Kinder kommt dann mit jedem Erfolgserlebnis und Folgekonzert von allein.

Singen ist potenziertes Musizieren – immer agieren Sie auch mit Worten und Texten; mit Aussagen, die die Energie der Musik zusätzlich prägen. Wovon lassen Sie sich bei der Repertoire-Auswahl primär leiten: Von guter Musik? Von guten Texten? Was ist auschlaggebend?

Das eine geht nicht ohne das andere. Wenn die Balance nicht stimmt, fällt es mir schwer, das mit den Kindern zu singen. Dann muss ich es eigentlich beiseitelegen. Wenn hingegen beides von guter Qualität ist, lassen sich die Kinder schnell begeistern. Eine gute Melodieführung ist leicht zu lernen, egal ob klassisch oder populär.  Ein guter Text überzeugt, man stolpert nicht über schlechte Formulierungen oder ärgert sich über Banalitäten.
Was mich inhaltlich nicht überzeugt, singe ich nicht gern mit den Kindern. In Graubereichen versuche ich, mit den Älteren darüber zu sprechen. Manchmal kann man auch kreativ werden und das eine oder andere etwas anpassen – schon zu Luthers Zeiten waren Kontrafakturen populär, das haben wir ein wenig verlernt, aber nehmen es in kleiner Form zunehmend wieder auf.
Als Quintessenz würde ich sagen: Schlechte Musik führen wir nicht auf, da gibt es sofort eine klare Haltung. Schwieriger ist der Umgang mit banalen, flachen Texten, von denen es leider viele gibt. Die meist bessere Musik verschleiert das Problem oft. Hier sind unsere Sensibilität und unser Anspruch gestiegen – wir sprechen darüber, wir wägen ab und gegebenenfalls formulieren wir neu. Diese Freiheit nehmen wir uns, um authentisch zu bleiben.

Gibt es eine Tradition, die Sie selbst prägt und die Sie weitervermitteln wollen?

Ich bin in einer jahrelang gereiften Kinderchortradition aufgewachsen, die mich entscheidend geprägt hat. Dazu gehörten stimmungsvolle Konzerte im Advent, gemeinschaftsstiftende Chorfahrten mit tollen Aufführungen und bewegenden Andachten. Aber auch Freude und gegenseitiger Anspruch in den Chorproben. Die starke Beziehung zum Chorleiter oder zur Chorleiterin war ausschlaggebend dafür. Vieles davon konnte ich in den vergangenen Jahren selbst schon umsetzen. Es ist aber immer ein Prozess.

Gibt es Stücke, die Sie anderen Kinder- oder Jugendchören empfehlen würden? Haben Sie ein – oder mehrere Lieblingsstücke, die Sie immer wieder gern mit Kindern oder Jugendlichen einstudieren?

Da fallen mir zunächst Stücke ein, die wir mit besonders großer Freude aufgeführt haben – zum Beispiel »Nur Mut – Georg und der Drache« eine Kantate von Antoinette Lühmann und Jan Simowitsch, die wir teilweise noch neu arrangiert und mit zusätzlichen eigenen Szenen haben. Ebenso »Nach uns die Sintflut«, ein Kindersingspiel von Johannes M. Michel, das die Geschichte der Arche Noah im Kontext der heutigen Klimaveränderungen neu aufbereitet und uns unsere ökologische Verantwortung zeigt, die wir alle haben, wenn wir den Wasserhahn öffnen oder den schnellen bequemen Kaffee to go trinken.
Besonders waren und sind für mich auch die Begegnungen mit dem Liedermacher Gerhard Schöne, mit dem wir zusammen Konzerte gestalten konnten. Dafür können wir auf eigene Arrangements zurückgreifen, die ich meinem Mann, Konrad Pippel, zu verdanken habe. Seine Arrangements sind immer optimal, weil sie genau auf unsere Bedürfnisse abgestimmt sind.
2025 planen wir die Aufführung der Kinderoper »Brundibár« des Komponisten Hans Krása, der 1944 in Auschwitz ums Leben kam. Es ist die Geschichte der Geschwister Pepíček und Aninka, sie erzählt von der Kraft der Musik und dem bedingungslosen Zusammenhalten von Freunden – also Gemeinschaft, wie ein guter Chor sie darstellt.

Was ist das schönste Lob / der größte Dank, den Sie für Ihre Arbeit als Kantorin/Chorleiterin erhalten?

Die schönsten Momente sind, wenn Kinder und Jugendliche nach den Aufführungen auf mich zukommen und das gleich unbedingt noch mal aufführen wollen. Wenn ihre Augen beim Singen leuchten. Oder wenn Jugendliche als junge Erwachsene den Jugendchor verlassen und sich für die prägenden Momente der gemeinsamen Zeit bedanken. Dann spüre ich eine tiefe Freude, dass mir gelungen ist weiterzugeben, was mir das Kantorenehepaar meiner Jugend geschenkt hat.

Das Gespräch mit Ulrike Pippel führte Klaus-Martin Bresgott.

Fotos: Kulturbüro des Rates der EKD/Ralf Klöden