Birgit Wendt-Thorne

Profilbeauftragte »Junge Stimmen« in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Oldenburg und Leiterin der Chorschule Eversten.

Interview in Howacht im November 2023

Liebe Frau Wendt-Thorne: Sie sind eine erfahrene Kantorin und Chorleiterin und blicken bereits auf eine langjährige und vielseitige Erfahrung zurück. Wenn Sie ganz auf den Anfang zurückschauen: War dies Ihr Wunsch-Beruf? Was macht er für Sie aus? Ist er für Sie (auch) eine Berufung?

Ganz sicher war ich mir in der Wahl meines Berufes zunächst nicht, obwohl ich bereits mit 12 Jahren als Dorfkantorin Orgel spielte und mit 14 Jahren Jungstudierende am damaligen Konservatorium in Bremen war. Sprache faszinierte mich ebenso in jeder Facette – sei es in der Logopädie oder auch in der Kulturwissenschaft. Schließlich habe ich mich doch für die Kirchenmusik durch das Vorbild meines »Mentors« Harald Wolf entschieden. Schon als Studentin habe ich einen Kinderchor gegründet und war damit sofort – ohne großes Know-How – erfolgreich. Damit war ich schon früh im Studium in der Kinderchorleitung tätig, war neben dem Studium unter anderem auch Kantorin der Schwedischen Seemannskirche in Hamburg, war viel in Skandinavien und habe dort auch wesentliche Inspiration für meine Arbeit gefunden: in der Arbeit mit schwedischen Mädchenchören und vor allem in Finnland mit dem Tapiola-Chor. Dort habe ich eine Pädagogik und Ausbildung erlebt, die es so in Deutschland nicht gab – die mir aber viel bedeutet und gegeben hat. Parallel zum Kirchenmusikstudium habe ich daraufhin eine Ausbildung zur Singschullehrerin und Chorleiterin am Konservatorium in Augsburg gemacht, hospitierte und assistierte unter anderem beim Hamburger Knabenchor und dem Mädchenchor Hannover. Später wurde ich Stimmbildnerin beim Landesjugendchor Rheinland-Pfalz und war schließlich bis 2022 künstlerische Mitarbeiterin in der Ausbildung von Lehrer:innen an der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg. Heute bin ich Profilbeauftragte »Junge Stimmen« in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Oldenburg und leite die Chorschule Eversten.

Wesentlich war und ist mir auf allen meinen Stationen immer die Intention und die daran geknüpfte Möglichkeit, einen Grundstein zu legen, mit dem ich Wesentliches über und mit dem Gesang für das Leben mitgeben kann, so dass auch etliche Sänger:innen von mir einen musikalischen Berufsweg eingeschlagen haben, vor allem Lehrer:innen aber ebenso Musicaldarsteller:innen, Tänzer:innen, Theaterschaffende und natürlich auch Kirchenmusiker:innen.
Ich kann diesen Beruf für mich rückblickend nur als Berufung verstehen. Anders wäre er für mich nicht auszufüllen, denn er braucht viel Durchhaltevermögen und Geduld sowie eine grundsolide und exzellente Ausbildung – mehr noch oder zumindest mit anderen Schwerpunkten als Chordirigent:innen von Erwachsenenchören. Denn Kinder und Jugendliche kommen nur, wenn es ihnen Freude macht. Ich versuche in jeder Probe, das Können der Kinder zu fördern und sie lustvoll zu fordern mit Respekt, sonst habe ich kein Gegenüber.

Was waren Ihre Ambitionen beim Berufseinstieg?
Hatten Sie das Ziel, aktiv pädagogisch zu arbeiten, von Anfang an?

Pädagogische und künstlerische Arbeit widersprechen einander nicht. Man muss eine gute Balance dabei finden. Ich hatte das unbedingte Ziel, aktiv pädagogisch und zugleich künstlerisch zu arbeiten, habe meine spezifische Ausbildung parallel zum Studium absolviert und gezielt Assistenzen und Hospitationen gesucht, um so souverän zu werden wie nur möglich. Kinder- und Jugendchorleitung sowie die entsprechende Stimmbildung waren früher kein Bestandteil der Kirchenmusikausbildung. Mein Ziel war die Gründung einer Singschule, was ich zum Ende des Studiums umgesetzt habe.

Wie verhält sich das pädagogische Ziel zum künstlerischen Anspruch als Musikerin?

Vom Baby-Singgarten bis zum Leistungs-Ensemble ist es mir wichtig, pädagogisch angemessen auf die entsprechende Gruppe einzugehen und allen Beteiligten die Freude am Gesang und die Lust an Sprache und Musik mit auf den Weg zu geben. Alle sollen zu eigenständigem Handeln und Beurteilen, zum Wachsen ermutigt und angeleitet werden – jede und jeder so gut wie möglich. Es geht nicht darum, Standards zu generieren, sondern die Stimmen zu begleiten und wachsen zu lassen. Das erfordert viel Geduld und Ermutigung sowie ehrliche und respektvolle Anleitung, die mit viel Wertschätzung jeder und jedes Einzelnen verbunden ist. Der Spaß am Singen darf auch nicht zu kurz kommen.
Pädagogische und künstlerische Ziele sind also eng miteinander verwoben. Dafür sind Leitung und Anleitung wichtig, wie diese erreicht werden können. Das braucht fundiertes Wissen über die Stimme in den verschiedenen Lebens-Altern der Kinder- und Jugendstimme. Natürlich können nur Ziele erreicht werden, die der Gruppe entsprechen – aber die Gruppe kann an sich auch immer wieder über sich hinausgewachsen und zu Höchstleistung befähigt sein. Das Wachsen der Einzelnen und der Gruppe ist ein Ziel, das die Ansprüche pädagogischer und künstlerischer Arbeit unbedingt miteinander verbindet.

Als Musikerin bekommen Sie unmittelbar Resonanz durch Konzerte
und Aufnahmen. Als Pädagogin brauchen Sie einen längeren Atem – Sie säen und ernten die Früchte oft erst Jahre später. Wie ist ihre Erfahrung damit?

Eigentlich erfahre ich täglich eine Resonanz auf meine musikalische und pädagogische Arbeit. Wichtig ist, sich über vielfältige Formen von Lernen und Fortschritt freuen zu können und diese zu wertschätzen. Bei mir lernen alle Gruppen von Anfang an aufzutreten – zum Beispiel bei kleinen Konzerten, in Gottesdiensten und bei Feierlichkeiten.
So wird es zur Selbstverständlichkeit, sich zu präsentieren und einen eigenen Ausdruck zu finden. Selbstvertrauen und Gruppendynamik werden damit gestärkt. Dies hat eine unmittelbare Rückkoppelung auf den Klang und die künstlerische Qualität: Leistung entsteht durch Vertrauen und Motivation sowie durch klare, liebevolle Anleitung, ein Getragen-Sein, wenn auch mal etwas schiefgeht.
Konzerte, Festivals und Wettbewerbe waren nie das Hauptaugenmerk – aber in dieser klar gestalteten Umgebung haben wir sie immer mit Freude vorbereiten und meistern können.

Was schätzen Sie an der Chorarbeit mit Kindern und Jugendlichen?
Welche besonderen Aufgaben sehen Sie hier?

Vor allem schätze ich die Direktheit, mit der Kinder und Jugendliche auf mich reagieren. Der ehrliche Ausdruck stärkt und fördert das Miteinander auf elementare Art und Weise.
Als besonders wichtige Aufgabe sehe ich die Förderung von Sprache, Stimme und Motorik, im weitesten Sinn auch Gesundheit, mit der auch die Persönlichkeitsbildung einhergeht. In meinem Kontext steht natürlich auch die Förderung von Gemeinschaft und Sozialverhalten durch die Vermittlung sozialer, humaner und christlicher Werte im Fokus.
Ein weiteres wichtiges Anliegen ist mir, dass die Kinder und Jugendlichen verschiedenste Musikstile kennenlernen, ein Verständnis für den Zusammenhang von Text und Musik entwickeln. Sie sollen musikalische Strukturen sehen und erkennen lernen. Ich möchte die Kinder und Jugendlichen besonders zu eigener (musikalischer) Urteils- und Handlungsfähigkeit ermächtigen. Das sind schöne, lohnende Aufgaben, die mich immer aufs Neue fordern.

Was erachten Sie als wesentlich, um Kinder und Jugendliche für das Singen und die Chorarbeit zu begeistern?

Laut einiger Studien stehen Spaß, Freude und Freundschaften bei Kindern und Jugendlichen an erster Stelle beim Chorsingen. Hier knüpfe ich an, weil Spaß und Freude eben nicht heißen: Pflicht und Langeweile. Bei Kindern und Jugendlichen stehen viele Tore offen – auch die der Bereitschaft aktiv zu sein, sich einzubringen mit ihren Möglichkeiten. Wichtig sind für mich Authentizität und eine altersgerechte Arbeitsweise, inhaltlich schließlich verständliche Texte und Musik von hoher Qualität in wechselnden Stilen. Diese sollen einerseits auf die Freude an der Abwechslung Rücksicht nehmen, andererseits den Sinn für das Unterschiedliche und seine verschiedenen Qualitäten schärfen. Das geht nur im Respekt vor dem Vermögen und der Leistungsfähigkeit und -freude der Kinder und Jugendlichen.

Singen ist potenziertes Musizieren – immer agieren Sie auch mit Worten und Texten; mit Aussagen, die die Energie der Musik zusätzlich prägen. Wovon lassen Sie sich bei der Repertoire-Auswahl primär leiten: Von guter Musik? Von guten Texten? Was ist ausschlaggebend?

Text und Musik sollten in gleicher Weise stimmig sein. Ein Stück ist nie richtig gut, wenn im Qualitätsanspruch zwischen beiden ein größeres Gefälle ist. Komplexere Texte und Musik müssen den Kindern und Jugendlichen erst nahegebracht werden. Mit dieser Erfahrung steigt dann auch das eigene Qualitätsbewusstsein der Kinder und Jugendlichen.

Gibt es eine Tradition, die Sie selbst prägt und die Sie weitervermitteln wollen?

Herausragend und empfehlenswert ist für mich die schwedische und finnische Tradition der Stimmbildung, wie ich sie als Assistentin beim Tapiola-Chor in Finnland, aber auch bei Hospitationen in einigen deutschen Chören kennengelernt habe. Ebenso schätze ich die englische Chortradition sehr, habe aber auch im Baltikum überragende Traditionen erleben dürfen.

Gibt es Stücke, die Sie anderen Kinder- oder Jugendchören empfehlen würden?
Haben Sie ein – oder mehrere Lieblingsstücke, die Sie immer wieder gern mit Kindern oder Jugendlichen einstudieren?

Ich versuche immer wieder Neues zu finden und auf die entsprechende Chorgruppe und ihre Möglichkeiten abzustimmen. Mit der einen Kindergruppe singen wir das »Weihnachtoratorium«, mit der anderen versuchen wir, intonatorisch sauberes Singen und eine einfache Mehrstimmigkeit zu erlangen. Dafür bewege ich mich in verschiedensten Musikstilen bis hin zum Jazz, Pop und zu Neuer Musik. Gute Musik gibt es überall.
Die Mitwirkung an großen Werken wie Bachs »Weihnachtsoratorium« ist für alle Kinder und Jugendlichen immer mit einem besonderen Erlebnis verbunden. Genauso sind sie von John Rutters »Mass oft the children« oder im Theater von der Mitwirkung bei »Hänsel und Gretel« begeistert. Das sind prägende Momente.

Das Erarbeiten und dann auf Aufführen kleinerer Lieder und Stücke – eben nicht nur von Oratorien etc. – ist eben auch mitreißend, bewegend, prägend und absolut lohnenswert für alle. Hier liebe ich auch besonders die englische Chortradition mit wunderschönen Stücken – vor allem zur Weihnachtszeit – wie »The first noel« oder »O little town of Bethlehem.«
Besonders schön finde ich auch das altersübergreifende, gemeinsame Singen von zum Beispiel Kinderchor, Jugendchor und Kantorei.

Was sind schönstes Lob und größter Dank für Sie und Ihre Arbeit als Kantorin und Chorleiterin?

Nichts geht über den Stolz und die Freude der Kinder und Jugendlichen, nicht nur nach einem Konzert oder einem Gottesdienst, auch nach jeder einzelnen Probe. Gegenseitiges Lob und Wertschätzung sind kostbar und einfach unabdingbar im Miteinander, für den Mut und die Entwicklung. Es ist schön, das wieder »live« zu spüren nach der langen Corona-Zeit. Diese Zeit hat die Kinder und Jugendlichen aus meiner Perspektive nachhaltig beeinflusst. An vielen Orten war ein elementarer Verlust eines Gruppen- und Sprachgefühls zu erleben. Der Wert musikalischen und künstlerischen Tuns im Singen war zu einem großen Teil verloren gegangen. Es war und ist noch immer ein Kraftakt bei den Kindern und Jugendlich sowie deren Eltern nötig, das gemeinsame Singen im Chor wieder als sinnvolle Freizeitbeschäftigung einzustufen und sich nicht stattdessen lieber musikalischem Einzelunterricht oder Sport zu widmen.

Es besteht nach wie vor ein großes Bedürfnis nach Gemeinschaft, gemeinsamem Musizieren und Singen. Wir können diesem Bedürfnis mit unseren Angeboten auf besondere, lebensprägende Art und Weise begegnen.

Das Gespräch mit Birgit Wendt-Thorne führte Klaus-Martin Bresgott.

Fotos: Kulturbüro des Rates der EKD/Ralf Klöden