Charlotte Wernicke

Kantorin der Petrusgemeinde Dessau und Leiterin der Evangelischen Singschule Dessau

Interview in Dessau im Januar 2024

Kantorin/Chorleiterin – war es Ihr Wunsch-Beruf? Was macht er für Sie aus? Ist er für Sie (auch) eine Berufung?

Musikalisch hat alles ganz anders bei mir angefangen. In der 1. Klasse hatte ich einen Traum: Ich wollte Türmerstochter werden. Die Türmerstochter hat damals im 30jährigen Krieg mit der Trompete meine Heimatstadt Delitzsch vor der Plünderung gerettet – im Andenken an sie wird alle paar Jahre eine neue Türmerstochter von der Stadt gewählt und vertritt sie an Festtagen im historischen Gewand. Das war mein Ziel!
Also habe ich Trompete gelernt – und wurde tatsächlich Türmerstochter, was mich total stolz gemacht hat und beim Üben die absolute Motivation war. Später kam noch das Klavier dazu – das brauchte ich zum einen, weil ich auch gern in einer Band spielen wollte wie mein Vater, der zwar selbständiger Automechaniker, aber mit mindestens gleichem Enthusiasmus Schlagzeuger in einer Band ist. Zum anderen spielte zwar jemand in der Kirchengemeinde Orgel, aber niemand konnte die neueren Lieder begleiten – und sobald ich einigermaßen fit war, spielte ich dann auch sonntags im Gottesdienst Klavier, das so zu meinem wichtigsten Instrument wurde. Ich habe sogar bei meiner eigenen Firmung – ich bin katholisch aufgewachsen – gespielt.
Aus diesen musikalischen Aktivitäten hat sich aber nicht automatisch der Wunschberuf Kantorin oder Chorleiterin abgeleitet. Lehrerin fand ich reizvoll – am liebsten mit den Fächern Deutsch und Musik. Nach dem Abitur wollte ich aber nicht gleich richtig studieren, sondern ging im ersten Jahrgang des C-Seminars nach der Schließung des in der DDR legendären Standorts Halberstadt nach Halle (Saale) – und dort habe ich plötzlich Feuer gefangen. Vor allem im Rahmen der Chorleitungsausbildung spürte ich, dass hier mein Weg und meine Begabung liegen: Menschen durch die Musik mit sich und dem Glauben in Berührung zu bringen. Damit war dann plötzlich auch mein Wunschberuf klar und nach dem C-Seminar ging es mit Freude weiter bis hierher, wo ich heute bin.

Was waren Ihre Ambitionen beim Berufseinstieg? Hatten Sie das Ziel, aktiv pädagogisch zu arbeiten, von Anfang an?

Im Kantorinnenberuf gibt es sehr unterschiedliche Schwerpunkte – meiner war von Anfang an der Chor, weniger die Orgel – also gemeinsames Musizieren und Gemeindeaufbau durch die Musik. Das ist umfänglich pädagogisch, ja – und es hat auch sehr viel mit Verkündigung und Seelsorge zu tun. Gerade diese zwischenmenschliche Aufmerksamkeit und Aktivität ist sehr fordernd und braucht auch immer wieder zwischenzeitliche Rückzüge. Aber sie ist vor allem in der Arbeit im Kinder- und Jugendchorbereich sehr bereichernd und stärkend, weil alle Dankbarkeit und Freude an der Arbeit unmittelbar zurückkommt – auch über immer neue und immer mehr Kinder, die dabei sein möchten und eine schöne Bestätigung des eigenen Wirkens sind.

Wie verhält sich das pädagogische Ziel zum künstlerischen Anspruch als Musikerin?

Ich habe noch keine jahrzehntelange Erfahrung. Ich bin seit 2020 im Dienst, seit 2022 hier in Dessau mit einer neu aufzubauenden Stelle mit einer Sing-Schule, die auf der Idee und dem Konzept einer Kollegin und mir basierte, mit inzwischen schon 5 Kinderchorgruppen von der musikalischen Früherziehung über die Kinderkantorei, Kurrende I und II bis zum Jugendchor.
Insgesamt betreuen wir hier derzeit gut 60 Kinder und Jugendliche. Das ist eine schöne Aufgabe, mit der ich selbst wachse und erfahre, wie alles in der Waage sein muss. Im Rahmen meiner Arbeit merke ich, wie gute pädagogische Arbeit auch künstlerisch gute Ergebnisse mit sich bringt. Das ist eine schöne Herausforderung, weil die wachsende Qualität wiederum mehr Neugierde hervorruft: was wir tun, wie wir es tun. Es kommen mehr Kinder und Jugendliche – und die Arbeit und die Möglichkeiten vervielfältigen sich.

Als Musikerin bekommen Sie unmittelbar Resonanz durch Konzerte und Aufnahmen. Als Pädagogin brauchen Sie einen längeren Atem – Sie säen und ernten die Früchte oft erst Jahre später. Wie ist ihre Erfahrung damit?

Die Früchte, die wir ernten, sind noch klein – aber sie machen mich durchaus stolz, weil sie ein langes Haltbarkeitsdatum haben. Glücklicherweise haben wir durch die Nähe zur Evangelischen Grundschule, zu umliegenden Kindergärten und Dank vieler aufgeschlossener Eltern eine gut bereitete Umgebung. Auch der Trend zu vollumfänglicher Früherziehung – dazu gehört glücklicherweise auch die Musik – begünstigt unser Tun. Aber nichts kommt von allein – und wenn wir nicht einladen, motivieren, aktivieren – und gute Arbeit leisten, sind die Kinder auch so schnell wieder weg, wie sie gekommen sind.
Ich habe in meiner Gemeinde hier ein besonderes Betätigungsfeld und ein schönes Zuhause gefunden – das wollen wir auch den Kindern bieten – mit den Möglichkeiten, die die Musik schenkt und die ich den Kindern und Jugendlichen vermitteln kann. Wenn einem die Musik einmal Heimat geworden ist, ist sie ein großes inneres Kraftfeld, das einen stärkt und als Persönlichkeit wachsen lässt. Diese Aufgabe, den Kindern und Jugendlichen diese Kraft zu vermitteln, habe ich. Dafür muss ich authentisch sein und vorleben, wie es mich selbst prägt.
In dieser Offenheit nehme ich meine Chöre mit – und jede volle Probe ist der Vertrauensbeweis dafür, dass dieser Weg gut ist. Gutes soziales Gelingen schafft schließlich die Basis für gutes künstlerisches Gelingen.

Was schätzen Sie an der Chorarbeit mit Kindern und Jugendlichen? Welche besonderen Aufgaben sehen Sie hier?

Am schönsten sind für mich die direkten Reaktionen – ich bekomme viel zurück, lerne viel, lache viel – die Kinder sind offen. Das Alter geht aber auch mit besonderen Aufgaben einher, etwa einer komplexen Bindungsarbeit und einer komplexen Rundum-Kommunikation, weil auch die Eltern mit im Boot sind, mit ins Boot wollen oder ins Boot sollen, damit alle an einem Strang ziehen.
Für mich hat diese Art der Chorarbeit mit Kindern und Jugendlichen viel mit Gemeindeaufbau zu tun. Es ist Basisarbeit. Es ist Beziehungsarbeit. Wenn der Chor – und damit auch die Gemeinde – zur Heimat werden soll, muss ich die Möglichkeit schaffen für den eigenen Ausdruck, muss ich Raum geben für die jeweils eigene Identität. Daraus erwächst schließlich auch eine gemeinsame Identität als Chor.
Dafür braucht es neue Konzepte, neue Formen des Umgangs, eine große Beweglichkeit und immer wieder Perspektivwechsel, ohne den eigenen Fokus zu vernachlässigen. Dafür sind Projekte sehr wichtig. Jedes neue Projekt ist ein künstlerischer und pädagogischer Weg mit einem krönenden Abschluss – gemeinsam arbeiten, gemeinsam spielen, gemeinsam essen, gemeinsam konzertieren – diese Gemeinsamkeit im Musizieren ist meines Erachtens das größte Potential der Kirche.

Was erachten Sie als wesentlich, um Kinder und Jugendliche für das Singen und die Chorarbeit zu begeistern?

Begeisterung schaffe ich über tolle Musik, über eingängige, aber immer auch anspruchsvolle Literatur. Kinder und Jugendliche wollen niemals unterfordert werden, dann langweilen sie sich … Gutes Musizieren gelingt in diesem Alter nur über Beziehungsarbeit, über Vertrauen und Achtung – jede und jeder soll und will gesehen werden. Wichtig ist dabei auch die Gemeinschaft, die Gemeinsamkeit in der Gruppe, das Gruppengefühl – und schließlich Auftritte, die die Selbstwirksamkeit aktivieren, die der Freude am Ausdruck Raum geben, die Erfolge aufzeigen – Spannung und schließlich pure Freude. Für alles kann Chorarbeit dienen und Vorbild sein. Musik schenkt uns in gelingender Vielstimmigkeit den Beweis bestmöglicher Gemeinschaft, weil sich alle aufeinander einlassen und verlassen können.

Singen ist potenziertes Musizieren – immer agieren Sie auch mit Worten und Texten; mit Aussagen, die die Energie der Musik zusätzlich prägen. Wovon lassen Sie sich bei der Repertoire-Auswahl primär leiten: Von guter Musik? Von guten Texten? Was ist ausschlaggebend?

Ich glaube an eine gute Mischung! Der beste Text nützt nichts, wenn er unsingbar ist. Andersherum ist es genauso. Es kann immer tiefsinnig und darf immer wieder gern lustig sein, aber auf keinen Fall plump, albern oder banal. In jedem Fall steht Musik am Anfang des Erlebens und Verstehens.
Klassische Texte sind oftmals schwer verständlich in ihren Metaphern, im Wort- und Satzbau. Oft sehe ich bei den Kindern in Augen voller Fragezeichen, wenn wir einen alten Choral singen. Neue Lieder entsprechen viel mehr dem eigenen Verständnis und Sprachgestus und sind dadurch vertrauter und schneller im Repertoire.
Im Jugendchor haben wir eine »Wunschliederliste« – die wird nach Absprache mit Freude abgearbeitet und hat natürlich Klassiker wie Riptide oder Abba, die wir dann auch singen. Das ist wichtig, weil das ein Urbedürfnis stillt – frei nach Walt Disney: »Warum etwas sagen, wenn man es singen kann?«

Gibt es eine Tradition, die Sie selbst prägt und die Sie weitervermitteln wollen?

Im Jugendchor der Singschule habe ich die Rubrik »5-Minuten-Wochenlied« eingeführt. Einerseits, damit die Jugendlichen im Gottesdienst – falls sie dort mal aufkreuzen – noch Anschluss zu finden, andererseits, damit das Gesangbuch mit seinen wunderbaren Melodien für sie nicht zur Blackbox wird, weil es in ihrem musikalischen Kontext nicht mehr vorkommt.
Die Hinführung zur Alten Musik können wir glücklicherweise über die Teilnahme an der Aufführung großer Werke wie Bachs Weihnachtsoratorium ermöglichen. Das ist oftmals ein tief einschneidendes Erlebnis – insbesondere durch das Hinzukommen des Orchesters und der Solisten. Plötzlich tauchen die Kinder und Jugendlichen in eine andere, sie verklärende Welt ein, die sie alles Drumherum vergessen lässt.
Auch Popmusik ist mir eine sehr wichtige Form, die an meine und die Wirklichkeit meiner Chormitglieder gebunden ist. Seit einem Jahr leite ich einen bunten Popchor mit 45 Leuten. Dafür absolviere ich nebenher noch den Masterstudiengang »Kirchliche Popularmusik« an der EHK Halle (Saale), um richtig fit zu sein – Arrangements von Stephan Zebe, Carsten Gerlitz oder Christoph Zschunke sind mir wichtige Anlaufstellen – das ist nicht nur sphärisch auratische Musik, sondern handwerklich gut gemachte, mit pfiffigen Ideen, zündenden Akkorden und rhythmischer Energie, die alle mitreißt und Menschen aller Generationen abholt.
Schön ist sie vor allem, wenn sie Altes mit Neuem verbindet, wie zum Beispiel »Danke für die Sonne (Ich singe dir mit Herz und Mund)« oder »Du bist der Weg, Herr (Dona nobis pacem)«.
Als katholisch aufgewachsene Frau hege ich schon aus biografischer Bindung eine tiefe Sympathie zur Liturgie. 2024 möchte ich mit der ganzen Singschule sowohl im evangelischen als auch im katholischen Gottesdienst eine »Messe« aufführen, um Liturgie lebendig zu erfahren, das Gefühl für die alte Sprache nicht zu verlieren und eine Ahnung zu bekommen, was über Jahrhunderte in den großen Kathedralen, die die Kinder und Jugendlichen oft nur noch wie ein Museum besuchen, geklungen und die Räume lebendig gemacht hat. Dies habe ich erstmals als klassische Aufführung vor, nachdem unsere Musicals bisher immer auch szenisch aufgeführt wurden. Das wird eine schöne, neue Herausforderung.

Gibt es Stücke, die Sie anderen Kinder- oder Jugendchören empfehlen würden?
Haben Sie ein – oder mehrere Lieblingsstücke, die Sie immer wieder gern mit Kindern oder Jugendlichen einstudieren?

Durch mein Studium an der EHK (Evangelischen Hochschule für Kirchenmusik) in Halle (Saale) – die übrigens 2026 ihr einhundertjähriges Bestehen feiert – und die Mitarbeit in der dortigen Paulusgemeinde sind mir die tollen Sachen von Andreas Mücksch sehr vertraut – zum Beispiel sein Kindermusical »Petrus« oder sein Krippenspiel. Er verwendet immer gute, auf das Alter abgestimmte Texte von Barbara Schatz – die Kinder lieben Mücksch-Musik.
Empfehlen kann ich genauso Gerd-Peter Münden, beispielsweise sein Musical »Bileam und die gottesfürchtige Eselin« Außerdem arbeite ich gern mit dem »Freiburger Kinderchorbuch« und den »Monatsliedern« der Nordkirche.

Was ist das schönste Lob oder der größte Dank, den Sie für Ihre Arbeit als Chorleiterin erhalten?

Mich erfüllt es, wenn die Kinder stolz und die Eltern gerührt sind. Solche Momente bewahrt das Herz – sie stiften Lust und Vorfreude auf Nächstes und bereiten in den Kindern den Boden für Kräfte, die ihnen diese Erlebnisse mitgeben und sie tragen, wenn es darauf ankommt. Sehr berührt hat mich auch unlängst eine ältere Dame, die nach dem Gottesdienst, in dem ich ein modernes Lied gesungen habe, zu mir kam und sagte: »Auf diese Art von Musik im Gottesdienst habe ich mein Leben lang gewartet.«

Das Gespräch mit Charlotte Wernicke führte Klaus-Martin Bresgott.

Fotos: Kulturbüro des Rates der EKD/Ralf Klöden