Elke Schneider

Chorleiterin in der Nachwuchsarbeit des Dresdner Kreuzchores und freiberufliche Chorleiterin der Prenzlberger Singvögel

Interview in Berlin im Dezember 2023

Liebe Frau Schneider:
Kantorin, vorzugsweise Chorleiterin – war das Ihr Wunsch-Beruf?
Was macht er für Sie aus? Ist er für Sie (auch) eine Berufung?

Nein – ich hatte nicht vor, Kirchenmusik zu studieren, obwohl mir Musik schon von klein auf sehr nah war und mir in meinem Elternhaus, einem Bauernhof im Oberspreewald, viel bedeutete. Am liebsten hätte ich Klavierpädagogik studiert. Das entsprach am ehesten meinen Neigungen. Schließlich habe ich aber aus der Not eine Tugend gemacht. Das lag auch daran, dass ich – mit einem sehr speziellen Abitur am Kirchlichen Oberseminar in Potsdam-Hermannswerder – in der DDR keine andere Möglichkeit hatte, als Kirchenmusik zu studieren. Ein besseres Abitur hätte ich nicht haben können – aber es wurde staatlicherseits nicht anerkannt und ließ nur innerkirchliche Studienberufe zu: Theologie oder Kirchenmusik.
Inzwischen, nach vielen Jahren der musikalischen Arbeit mit Kindern und 15 Jahren selbständiger Singvögel-Chorleitungsarbeit, spüre ich tatsächlich so etwas wie eine Berufung, weil ich die musikalische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen – auch Dank der wunderbaren Erfahrung mit meinen eigenen Kindern und deren Aufwachsen – als erfüllend erlebe und spüre, wie wichtig auch eine gute soziale Prägung durch den Chor und seine Gemeinschaft für das Standing der Kinder und Jugendlichen in der Gesellschaft ist.

Was waren Ihre Ambitionen beim Berufseinstieg?
Hatten Sie das Ziel, aktiv pädagogisch zu arbeiten, von Anfang an?

Ich hatte nie den Wunsch, eine Kirchenmusikerstelle anzutreten, sondern wollte von Anfang an direkt und unabhängig von dienstlichen Vorgaben, Sitzungen und Beschlüssen musikalisch-pädagogisch aktiv werden. Glücklicherweise hatte ich nach dem Studium in München und Halle bereits an meinem ersten Arbeitsort Dresden, der seinerzeit auch mein Wunschort war, rasch eine große Zahl von privaten Klavier- und Theorie-Schülerinnen und Schülern, die mir diese Unabhängigkeit ermöglicht haben. Bereits hier habe ich das Musizieren als gemeinschaftliches Agieren und soziales Lernen verstanden, habe alle immer auch 4-händig spielen lassen, um das gegenseitige Zuhören, das Interagieren und das musikalische Verstehen im Kontext zu üben, das dann schließlich in Elternvorspielen zu ersten Aufführungen gelangte. Dabei gingen für mich Lehren und Lernen immer Hand in Hand.

Die Elternvorspiele und Vortragsabende – egal ob am Klavier oder im Chor – waren und sind bis heute immer wichtige Anlaufpunkte, um sich sowohl in der Gemeinschaft der Musizierenden als auch für mich selbst in meiner Arbeit und meinen Ansprüchen zu reflektieren, wohin unsere gemeinsame Arbeit führt, was sie trägt – und was sie zu wirken imstande ist in der Fülle an Fertigkeiten und Emotionen, die sie hervorbringen kann. Insofern verstehe ich meine pädagogische Arbeit auch als Stärkung der Persönlichkeit meiner Schülerinnen und Schüler.

Wie verhält sich das pädagogische Ziel zum künstlerischen Anspruch als Musikerin?

Mein Ziel ist zunächst eine große Klarheit und Fokussierung – das bedeutet nichts anderes als eine gute Proben-Disziplin. Aus ihr heraus kann ich eine elementare Freude am Musikmachen wecken und in der Gruppe mehr und mehr Musikalität entwickeln. Praktisch gesehen geht es dabei um einen bewussten Einsatz des Körpers und eine aktive, bewusste Sprache: wie schön, wie souverän klingt gutes und bewusstes Sprechen und Singen. Dafür muss der ganze Körper bereit sein, dafür brauchen wir ihn. Aber nicht nur dafür. Wie wichtig ist auch das Bewusstsein für jede noch so einfache Rhythmik, für jede kleine Melodie – auch die will körperlich wahrgenommen und empfunden werden. Wenn ich diese ganzheitliche, ganzkörperliche Aufmerksamkeit wecken kann, ist alles möglich – dann geraten Pädagogik und künstlerischer Anspruch in Balance – und dann spielen weniger Schwierigkeitsgrade als Authentizität im Umgang eine Rolle. Diese Basis ist wichtig und ermöglicht ein gutes, ein wahrhaftiges Musizieren. Das ist meine künstlerische Ambition. Sie ermöglicht die ganze Konzentration auf das, woran wir arbeiten: auf das Musikstück und seine Interpretinnen und Interpreten, egal welchen Alters. Wenn sie eine Einheit bilden, sehe ich meine Aufgabe als erfüllt.
Wichtig für diesen Weg sind meines Erachtens Aufführungen und Konzerte – egal wo – sie schaffen Spannung und Erfüllung, Lampenfieber und Stolz, kurzum jene Energie, die uns durch die Musik über uns hinaus zu uns selbst führt.

Als Musikerin bekommen Sie unmittelbar Resonanz durch Konzerte und Aufnahmen. Als Pädagogin brauchen Sie einen längeren Atem – Sie säen und ernten die Früchte oft erst Jahre später. Wie ist ihre Erfahrung damit?

Auch wenn die Konzerttermine langfristig feststehen, denke ich von Tag zu Tag und von Woche zu Woche, denn das bündelt Kräfte und lässt kleine Schritte zu. So lassen sich auch große Pläne verwirklichen, weil nicht das Ganze als übermächtig Großes im Blick ist, sondern kleine Einzelteile – einzelne Puzzlestücke, aus denen etwas wächst. So konzipiere ich sukzessive die wöchentlichen Proben und baue Überforderung vor. Es nimmt mir selbst den Zeit- und Erfolgsdruck – ich kann locker in jede Probe gehen, Zeit für Späße oder Singspiele einplanen, ohne dass Druck aufkommt, der alle stresst und lähmt. Wenn ich darüber hinaus ohne Murren annehme, dass eine Probe etwas Organisches ist, dass es mal besonders und mal nicht so gut läuft, erspare ich mir und allen schlechte Laune.
Mit diesem Anspruch ist die Frage nach Früchten der Arbeit obsolet. Ich erfahre sie in jeder Probe. Jede bringt ihre Frucht – jede schmeckt auf ihre Weise. Und ein Konzert ist dann ein ganzer Früchtekorb.

Was schätzen Sie an der Chorarbeit mit Kindern und Jugendlichen? Welche besonderen Aufgaben sehen Sie hier?

Die Kinder und Jugendlichen meiner Prenzlberger Singvögel in Berlin kommen aus eigenen Stücken zu mir, sie wollen gut diszipliniert gemeinsam lernen, Spaß haben, den gleichen Ton verlässlich treffen, auswendig singen, Mehrstimmigkeit erfahren, sich untereinander austauschen … Dem geht natürlich ein gutes chorisches Einsingen inklusive einer sensibilisierenden Körperarbeit voraus – Bewegung und Abwechslung, worauf ich von mir aus großen Wert lege.
Bei meiner Arbeit in Dresden mit den Kruzianern, mit denen ich in der Nachwuchs-Choreinstudierung arbeite, stehe ich vor anderen Aufgaben – sie haben mehr zu leisten, sind stets qualitativ und vor allem quantitativ mehr gefordert. Für sie ist es schon ein Dienst, bei dem viel weniger Zeit für Spaß und Spiel während der Proben bleibt. Und genau deshalb ist mir bei den Kruzianern neben der nötigen Konzentration besonders Lockerheit und Einfühlung wichtig – der kleine Spaß, das gemeinsame Lachen, das die jeweilige Situation immer wieder entspannt und von Woche zu Woche kleine Berge versetzt.
Als besondere Aufgabe sehe ich für mich die immer bewusste, gute verbale Ansprache während der Probe, das Zeigen der eigenen Begeisterung für das zu Erreichende und die ehrliche Freude am Erreichten – dies rüberzubringen und daraus eine gemeinsame Erfahrung werden zu lassen, sind für mich wesentliche Gelingensfaktoren für eine gute Zusammenarbeit.

Elementar sind darüber hinaus in meinen Augen zwei Dinge: Zum einen sollte man als Chorleiterin oder Chorleiter in jeder Probe gut improvisieren und umdisponieren können, wenn etwas gerade gar nicht läuft oder festzufahren droht. Zum anderen sollte man immer alle im Blick haben – nicht nur die Schnellen, die Guten, die Stürmer, sondern auch die Schüchternen, die Stillen, die chronisch Müden, die scheinbar Abwesenden – der Chor sind alle.
Und schließlich schadet es nie, immer etwas Lustiges auf Lager zu haben, etwas, was den Moment erlöst und entspannte Blickwechsel möglich macht.

Was erachten Sie als wesentlich, um Kinder und Jugendliche für das Singen und die Chorarbeit zu begeistern?

Am wichtigsten ist der offene Empfang – die Empathie und das Abholen derer, mit denen ich es zu tun habe. Das bedeutet für mich unter anderem eine freundliche, deutliche direkte Ansprache auf Augenhöhe und eine ehrliche, anteilnehmende Frage nach dem Befinden, nach den Erlebnissen des Schul- oder KiTa-Alltags. Genauso wichtig sind kleine musikalische und rhythmische Spiele miteinander und vor allem ein heiterer Sinn – keine Probe darf vergehen, ohne dass ich die Kinder und Jugendlichen nicht wenigstens zwei- oder dreimal zum Lachen bringen konnte.
In der direkten Probenarbeit ist die Einbeziehung der Kinder und Jugendlichen wichtig – ich erfrage Vorschläge für Einsingeübungen aus der Gruppe heraus und bin auch immer offen für sportlich-spaßiges Einsingen, also für viel Bewegung, die die mitgebrachte Anspannung löst und die Gruppe eint.
Auch sprachlich beziehe ich die Kinder bei Übungen ein – die Kinder können selbst etwas dichten oder Vorschläge einbringen, mit denen wir agieren.

Ich selbst muss immer nach besonderen Stücken Ausschau halten – nach schönen Melodien und guten Texten, damit sie – gut vorgesungen – Lust auf die Stücke bekommen und wir die Erarbeitung motiviert angehen können.

Singen ist potenziertes Musizieren – immer agieren Sie auch mit Worten und Texten; mit Aussagen, die die Energie der Musik zusätzlich prägen.
Wovon lassen Sie sich bei der Repertoire-Auswahl primär leiten: Von guter Musik? Von guten Texten? Was ist ausschlaggebend?

Ich lasse mich zunächst von guter Musik leiten, weil ich selbst vor allem über Klang und Atmosphäre, über Sound und Energie empfinde und danach auswähle.
Bei guter Musik passt in der Regel alles zusammen – gute Musik macht alles verständlich, wenn ich etwa an Bachs Choräle, an Jazz-Standards, an verschiedene Kanons oder auch an gute Popmusik denke. Am Ende sind Stile und Schwierigkeitsgrade weniger entscheidend – vielmehr der Zugang, den ich schaffe und den ich unterstütze, indem ich vieles selbst arrangiere.
Wichtig ist, dass die Kinder und Jugendlichen es mögen. Genauso dürfen sie selbst Vorschläge einbringen und wir überlegen, was geht.

Gibt es eine Tradition, die Sie selbst prägt und die Sie weitervermitteln wollen?

Meine früheste Prägung sind die tief eingelassenen Einschlaflieder meiner Eltern und kleine musikalische Bewegungsspiele wie »Hoppe-Hoppe-Reiter« oder »Auf unsrer Wiese gehet was, watet durch die Sümpfe« – die elementar für das musische Empfinden sind, jedes Kinderherz erreichen und wärmen. Das gebe ich ebenso weiter wie das Repertoire meiner ersten eigenen Chor-Tradition während meiner Abiturzeit am Kirchlichen Oberseminar in Potsdam-Hermannswerder während der 11. bis 13. Klasse, wo wir unter der wunderbaren Leitung unseres durch und durch musikantischen und humorvollen Musiklehrers und Kantors Dietrich Schönherr erste Berührung mit Heinrich Schütz und Anton Bruckner, mit Gospel und Johann Sebastian Bach hatten. Er machte uns konzertfähig und unternahm mit uns jährlich herrliche Chorreisen, die uns sowohl als Schulgemeinschaft als auch individuell sehr geprägt haben.
Dieses intensive Kennenlernen der Alten Meister und die ungezwungene Art der Befähigung des Umgangs mit verschiedenen Musik-Stilen waren für mich wichtige Bausteine für mein musikalisch-musikantisches Verständnis, die ich gerne weitergebe.

Gibt es Stücke, die Sie anderen Kinder- oder Jugendchören empfehlen würden?
Haben Sie ein – oder mehrere Lieblingsstücke, die Sie immer wieder gern mit Kindern oder Jugendlichen einstudieren?

Ich denke dabei sofort an Kanons wie den ungarischen Kanon »Maienwind am Abend« oder Cy Colemans »The rhythm of life« bis hin zu selbst bearbeiteten Traditionals vom afrikanischen Kontinent, tolle Jazz-Standards und Bach-Choräle. Spontan fallen mir da zum Beispiel ein »Moon River« oder »Evening rise«, »La-le-lu« oder »Feel The Rhythm«, Mozarts »V´amo di core« oder »Killing me softly«, »Vem kann segla« und natürlich Bachs wunderbares »Wie soll ich dich empfangen«.

Was ist das schönste Lob oder der größte Dank, den Sie für Ihre Arbeit als Chorleiterin erhalten?

Ich habe Jugendliche im Chor, die mit knapp zwei Jahren in der Baby-Spätzchen-Gruppe mit ihren Eltern bei mir zu singen begannen und jetzt noch als schöne, erwachsene Menschen regelmäßig bei mir singen. Das ist lebendiges Lob für mich. Oder wenn Kinder mich spontan fragen: »Kann ich noch eine Stunde länger bei der Probe bleiben und bei den Älteren mitsingen?« Manchmal bekomme ich sehr berührende Zuschriften nach Konzerten – zum Beispiel »Wir waren begeistert – Ich war begeistert – DU hast uns begeistert und deine Singvögel. So eine Vielfalt, so ein wunderbares Programm, so eine gekonnte Inszenierung, so ein durchgestalteter differenzierter Ablauf – und all diese schönen Lieder, die du ja gewiss für deine Chöre noch mal differenziert eingerichtet hast. Und all diese verschiedenen Charaktere … du gibst ihnen etwas Unvergessliches für ihr Leben mit!«

Das Gespräch mit Elke Schneider führte Klaus-Martin Bresgott.

Fotos: Kulturbüro des Rates der EKD/Ralf Klöden