Martina Hergt

Fachbeauftragte für Chor- und Singarbeit der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens

Interview im Oktober 2024 in der Hochschule für Kirchenmusik Dresden

Chorleiterin – war es Ihr Wunsch-Beruf? Was macht er für Sie aus? Ist er für Sie (auch) eine Berufung?

Wenn ich gefragt werde, was ich eigentlich mache, komme ich immer etwas in Erklärungsnot. Es kommt einfach viel zusammen, in dem was mich beruflich bewegt und was ich beruflich bewege.
Ja, ich bin Chorleiterin, ich bin Kirchenmusikerin, ich bin auch Kantorin – letzteres im Moment in einer landeskirchlichen Anstellung. Aber das alles greift am Ende doch zu kurz. Denn zu allererst und unbedingt bin ich eine Liedbegeisterte. Ich liebe Lieder! Sie hüllen sich wie ein Mantel um viele Momente meines Lebens. Sie wärmen, sie trösten, sie locken … sie hüpfen in mir, tragen mich und bringen mich in Schwingungen, in Bewegung, in Resonanz … Und indem die Lieder etwas mit mir machen, mach ich etwas mit ihnen – mal fühle ich mich als eine Entdeckerin, wenn ich Zwiegespräche von Musik und Text gestalten darf. Oder wenn es mir gelingt, Musik und Raum in spürbare Beziehung zu setzen, wenn Übergänge von Musik in Stille Gestalt annehmen und etwas entsteht, was ich vorher vielleicht noch nicht kannte – dann bin ich Gestalterin und Entdeckerin zugleich. Dabei denke ich nicht an große Werke. Das kann mit einfachen Mitteln – vor allem mit Liedern – passieren. Im Gottesdienst gelingt dies zum Beispiel aber auch im gemeinschaftlichen Weben kleiner liturgischer Zeremonien. Das sind wunderbare schöpferisch-spirituelle Momente. Übergänge sind meine Leidenschaft.

Öfter bin ich auch Musik-Übersetzerin für Kinder – aber auch Erwachsene – und öffne das Feld der Sinne dem Feld der Sprache: Was stellst du dir vor, wenn du »Morgentau der Ewigkeit« singst? Wie klingt am Abend, wenn du über den vergangenen Tag schaust, der Segen für dich »Sei Quelle und Brot in Wüstennot, sei um uns mit deinem Segen«? Welche Töne und Akkorde, welche Klangfarben wählst du dafür aus? Wirst Du zum Maler, der eine Sonnenuntergang gestaltet? Mit solchen Fragen versuche ich, Musik in ihrer Ganzheitlichkeit zu reflektieren und das Erlebnis seelischer Erquickung auch sprachlich erfahr- und damit teilbar zu machen.

Als Lehrende darf ich Kirchenmusikstudierende, Berufseinsteiger:innen, Teilnehmende an Fortbildungen, Pfarrer:innen und andere Berufsgruppen der Kirche in der Ausbildung begleiten. Ich bin Kontaktperson, Vernetzende, Impulsgeberin, Mutmacherin und Botschafterin unserer kirchlichen Musikarbeit in zivilgesellschaftlichen Verbänden und Gremien, die in ganz anderen Lebenskontexten Musik machen.

Vor allem aber in ich immer wieder aufs Neue eine Beschenkte, denn das, was ich tun darf, macht mir sehr viel Freude. Gerade auch mit jungen Menschen. Ich genieße die Übergänge zwischen Beruf und Berufung. Meine beruflichen Anker darin habe ich erst auf Umwegen entdeckt.

Was waren Ihre Ambitionen beim Berufseinstieg?
Hatten Sie das Ziel, aktiv pädagogisch zu arbeiten, von Anfang an?

Als ich 1987 mein Abitur in der Tasche hatte, war das Kirchenmusikstudium eine kleine Tür, die sich mir öffnete. Ich bin eingetreten. Der Studienwunsch war zuerst ein Kompromiss. Ich war hin und hergerissen zwischen vielen Dingen, die ich machen wollte, und dabei etwas orientierungslos. Solles es etwas Instrumentales sein? Unbedingt wollte ich im Chor singen, Theater spielen, hatte Bühnenlust und liebte das Lesen und Werkeln. Ich wusste eher, was ich nicht machen wollte – beispielsweise das frühe Aufstehen, wie die Werksarbeiter in unserer Kleinstadt – als das, was ich aus meinen vielen Interessen zum Beruf auswählen sollte. Die Schulzeit hatte ich in der DDR durchlebt. Von vielen Dingen träumte ich. Es war ohne Jugendweihe und in einem System der Planwirtschaft aber nicht realistisch für meinen Berufsweg. Der Ausweg: ein Studium unter kirchlichem Dach. Mein damaliger Klavierlehrer, Hans-Martin Schreiber, in einer kleinen Außenstelle einer Landmusikschule und meiner erster Orgellehrer, Kurt Grahl, bereiteten mich darauf vor. Wir haben viel geredet. Immer wieder über Lieder und Choräle. Dabei machte mir auch meine Mutter immer Mut, wenn sie hell durchs Treppenhaus sang.

So erlebte ich in die klassische »Inselsituation« einer kirchlichen Ausbildungsstätte in der DDR – staatlicherseits geduldet aber ohne Anerkennung des Studienabschlusses, an der damaligen Dresdener Kirchenmusikschule, die heute die Hochschule für Kirchenmusik Dresden ist.

Die Vorstellung, selbst pädagogisch zu arbeiten, lag noch in weiter Ferne. Ich hatte ja bis zum Studium noch nie vor einem Chor gestanden. Das ging dann alles sehr schnell. Und mitten im Studium – 1989 – wirbelte alles um mich herum und veränderte die Vorzeichen völlig.

Eigentlich habe ich erst nach dem Studium angefangen, meinem Beruf für mich so richtig zu entdecken: im ersten Praxisjahr nach dem Studium. Ich hatte schnell gemerkt, wie wichtig mir die Chor- und Singarbeit war und wie aufregend ich die Frage fand »Wie verstehen alle, was ich meine? Wie arbeiten alle hochmotiviert mit und lassen sich mit mir auf neue Klangentdeckungen ein?« oder »Wie gelingt es, dass nach 45 Minuten Kinderchorprobe alle erstaunt sind, wie schnell die Zeit vergangen ist?« – so hatte ich es selbst erlebt. Und so wollte ich es selbst machen!
Gerade in der Singwochenarbeit und in der Projektarbeit habe ich ungemein viel von Kolleg:innen gelernt. Ich erinnere mich an eine besondere Situation bei einer Singwoche mit dem ehemaligen Naumburger Domkantor Detlef Schöner: Die Kinder weigerten sich, die Probe zu beenden! Sie wollten unbedingt die neu angefangene Nummer eines neuen Musicals zu Ende singen und kennen lernen. Es war kein leichtes Stück – aber das hat sie nicht gestört! Das hat mich erstaunt. Und begeistert. So viel Leistungsbereitschaft und Motivation freiwillig, voller Lust, mit spielerischer Freude … Diese Energie wollte ich auch freisetzen.
Und nach dem Praxisjahr war klar: Das mache ich beruflich.

In Ihrer Arbeit als Aus- und Weiterbildende in Sachen Chorleitung für den Kinder- und Jugendbereich kommen Sie mit vielen angehenden Chorleiterinnen und Chorleitern in Kontakt. Welche Erfahrungen machen Sie? Was nehmen Sie als eigene Bereicherung aus den Erfahrungen der anderen mit?

Kirchenmusikstudierende kommen – wie auch die meisten Ehrenamtlichen in Fortbildungen – in den meisten Fällen vom Instrument her und entdecken die chorische Arbeit erst im Studium. Das ähnelt meiner Berufsbiografie. Gerade in der Kinder- und Jugendchorausbildung bin ich daher oft die erste pädagogische Ansprechpartnerin und begleite die Studierenden bei unsicheren Schritten ins Neuland. Ich muss damit sensibel umgehen. Vorsichtig locken und vermitteln. Und gleichzeitig viel Mut machen.

Die großen Persönlichkeitsfragen ans Selbstbild, an die Fremdwahrnehmung, an Marotten, an Schutzmuster aus imitierten Rollenbildern werden von den Kindern unmittelbar und ungeschminkt reflektiert. Unter- oder Überforderung wird sofort bestraft. Auch, wenn die Motivation in der Arbeit nicht stimmt oder ich nicht authentisch bin in meiner Beziehungsarbeit. Man geht durch einen schonungslos ehrlichen Persönlichkeitstest im Kinderchor und lernt dabei auch sehr viel für die Chorarbeit mit Erwachsenen.

Als Ausbilderin möchte ich natürlich Räume öffnen: Die Auszubildenden sollen Entdeckungen machen, die sie zur persönlichen Entwicklung ermutigen und die sie befähigen, angstfrei musizieren zu können und kreativ zu werden. Dabei muss ich den ganzen Menschen in den Blick nehmen, nicht nur seine musikalische Kompetenz oder das antrainierte Leistungslevel. Ich habe mich nie in Chören wohlgefühlt, in denen ein Klima der Angst herrschte. Ich habe für mich entdeckt, dass ich unter diesen Bedingungen nicht gut bin und mich nicht wirklich entfalten kann. Deshalb ist mir eine gute, freie Atmosphäre im Lernfeld sehr wichtig.

Oft ist die Kommunikation eine Herausforderung. Wie kann ich genau verständlich machen, was ich meine? Ich übe mich im guten Zuhören, im Beobachten und betrachte die Zeit mit den Studierenden als Geben und Nehmen. Im Zuschauen nehme ich mir auch Zeit, mich selbst zu reflektieren und lerne dabei viel dazu. Denn natürlich bin auch ich nicht perfekt – aber neugierig. Das macht es mir leichter. Mich interessieren Menschen.

Eine Bereicherung ist auch der Austausch mit anderen Berufsgruppen, zum Beispiel in der Vorbereitung eines Gottesdienstes. Im Vorübergehen geht das nicht. Dafür muss Zeit sein, auch zur Probe verschiedener Möglichkeiten vor dem Gottesdienst mit allen Beteiligten. In der Sächsischen Landeskirche wird im Gottesdienst viel gesungen, auch liturgische Wendungen. Hier kommt mir meine Liebe zu den Übergängen zugute, auch zu den Verschränkungen zwischen Wort und Musik. Da geht es nicht nur um Tonhöhen. Mir stellen sich Fragen: Wann fängt das Vorspiel zu einem Lied an? Wann wird im Wechsel gesungen? Kann das nicht öfter sein? Was macht ein Liegeton mit einem Lesungstext? Wo kann ein Chor im Raum zum Klangteppich unter einer Psalm-Lesung werden? Wo brauchen die Beteiligten und die Gemeinde Atem- und Hörpausen, Zeit über das Gehörte oder das eben Gesungene nachzudenken oder einfach zu memorieren? Es macht mir Spaß, einen Gottesdienst innerlich vorzubereiten oder in dieser Form weiterzudenken und zu prüfen und nicht nur die üblichen Bausteine durch Zuruf – Was singen wir denn heute für Lieder? – aneinanderzureihen. Ich habe auf diesem Feld sehr schöne Erfahrungen gemacht und bereichernde Begegnungen erlebt.

Bilden Sie individuell weiter? Geben Sie anhand unterschiedlicher Anforderungen und Möglichkeiten unterschiedliches Handwerkszeug und Repertoire mit? Oder sehen Sie die chorleiterische Basis eher grundsätzlich gleich und Individualität immer erst vor Ort in der direkten Arbeit gefragt?

Kein Mensch gleicht dem anderen. Keine Beratungssituation ist wie die andere. Ebenso ist keine Chorsituation oder Chorstunde jemals gleich. Vieles läuft mit einer hohen Gleichzeitigkeit ab. Im Kinder- und Jugendchor muss ich besonders schnell reagieren, oft mein ursprüngliches Programm abändern und der Situation anpassen.

Ich habe im Lauf der Zeit ein eigenes Verständnis von Leistung entwickelt. Ich tue mich schwer mit Bewertungen. Es ist immer ein ganz individueller Blick nötig – einer auf den ganzen Menschen, nicht nur auf die musikalischen Fertigkeiten. Als hilfreiches Mittel habe ich das Durchspielen ein und derselben Situation zum Beispiel mit drei verschiedenen Lernwegen entdeckt. Dabei kann Person A mit Hilfe ganz anderer Lernmittel oder Lernmethoden zum Erfolg kommen, als Person B. Gerade mit Kindern ist das sehr lustig und schön, wenn man sie hierfür zu einer Jury macht, die ein Votum abgibt, was ihnen am besten beim Erlernen der Singstelle geholfen und was ihnen dabei Spaß gemacht hat.

Wenn es Chorleitende schaffen, Lern- oder Qualitätswillen zu wecken, Gemeinschaft als Bereicherung zu erfahren, gemeinsame klangvolle Genusszeiten zur Verfügung zu stellen oder die Anwesenden zu neuen Entdeckungen und zum freien, angstlosen Ausprobieren anzuregen, dann ist viel getan.

Oft gibt der Alltag nicht die Möglichkeit für regelmäßige Aktivitäten in der Freizeit her – sei es aus Zeitmangel, fehlender örtlicher Nähe zu ansprechenden Angeboten oder ähnliches. Dafür gibt es Alternativen: ausgesuchte Projekte – im Chorbereich Singwochen. Wie ist Ihre Erfahrung damit?

Ich wohne in Leipzig. Dort gibt es viele Mitsingangebote: Chöre, Mitsingkonzerte, zeitlich begrenzte Projektchöre, Anlasschöre wie beispielsweise Elternchöre zur Konfirmation oder Chorangebote für besondere Zielgruppen, zum Beispiel nur für Frauen oder Fans einer besonderen Stilistik. Kirchliche Anbieter sind hier nur ein Teil von vielen und decken in meiner Wahrnehmung eher die wöchentlich verstetigten Angebote ab.
In unserem ländlichen Raum sind die Kirchen, bis auf die Schulchöre, oft die einzigen Anbieter. Ich sehe hier als Stärke, dass unsere Landeskirche vieles integrativ im Berufsbild des Kantors einbezieht, wie etwa Pop-Musik, generationsübergreifendes Singen oder theologische Haltungen und dafür Expert:innen und Profilstellen ausbaut.

Menschen kommen ja meistens nicht nur wegen des musikalischen Angebots eines Chores, sondern auch aufgrund der Beziehung zur Gruppe oder wegen besonderer Chorleiterinnen oder Chorleiter. Da muss vieles zusammenpassen: Das musikalische Niveau, das Repertoire, die Mitsingenden, die Leitung … In unserem Chören singen viele Menschen, die nicht kirchlich sozialisiert sind oder kaum Kirchen betreten haben. Laut einer MDR-Quelle von 2022 sind weniger als 15 Prozent der Menschen in den östlichen Bundesländern noch Mitglied der evangelischen Kirche, weniger als fünf Prozent gehören der katholischen Kirche an. Die Auseinandersetzung mit dem geistlichen Text eines Liedes kann in diesem Umfeld also eine sehr spannende Sache sein, wenn dafür Raum gegeben wird.

In der EVLKS gibt es eine aktive Singwochenarbeit unter dem Dach des Kirchenchorwerkes: Singwochen für Senioren, Singwochen für Kinder, für Jugendliche, für Eltern, Kindern, Paten und Großeltern, außerdem Singwochen mit hohen Freizeitanteil wie zum Beispiel in Zingst an der Ostsee oder eher musikalische Arbeitswochen für Neue Kirchenmusik oder sinfonische Chorarbeit und natürlich Wochenendangebote. Die gestiegene Wirtschaftskosten der Herbergen sind aktuell ein Problem für diese Formate. Da müssen Lösungen gesucht werden.

Gibt es einen Mehrwert von Projekten und Singwochen, den Sie besonders schätzen?

Vor ein paar Jahren hätte ich noch geantwortet: Große Chorfeste oder Chortreffen sind nicht mehr gefragt. Als wir in der EVLKS allerdings 2023 unseren landeskirchenweiten Kurrende-Tag »Himmelstöne – Erdenklänge« in der Stadthalle Chemnitz mit über 2.500 singenden Kindern gefeiert haben, hat sich die Situation nach der sang- und klanglosen Pandemiezeit ganz anders dargestellt. Bis auf den letzten Platz war alles ausgebucht. Kein Elternteil konnte als Zuhörer die Abschlussveranstaltung in der Stadthalle verfolgen, wir mussten einen Live-Stream einrichten. Das hat mich zum grundsätzlichen Überdenken meiner Einschätzung angeregt. Was hat sich verändert?

Besonders gut finde ich, wenn zwischen Akteuren und Themen Synergien entstehen. Beispielhaft dafür ist für mich das gesangbuchFORUM – eine Singvermittlungsplattform zum evangelischen Liederschatz für Multiplikator:innen und Singinteressierte zum Stöbern, Spielen und Ideen finden oder auch die Kampagne der EVLKS für 2025 »Singend im Glauben wachsen«.

In diesem Jahr hat der Chorverband in der Evangelischen Kirche in Deutschland (CEK) zum 500-jährigen Jubiläum des evangelischen Gesangbuchs in Kooperation mit chrismon, der Evangelische Verlagsanstalt und mehreren Landeskirchen ein »AchtKinderLiederbuch« mit Wimmelbild herausgegeben. Ich durfte an dem Projekt mitdenken und freue mich über dessen Erfolg sehr.

Wann sind Sie in Ihrer Arbeit glücklich?

Es gibt viele glückliche Gänsehautmomente. Besonders wenn Kinder sich mit Haut und Haar hineingeben ins Musizieren. Wenn Erwachsene das Gespräch auch über das Singen suchen. Wenn auszubildende Erzieher:innen nach einem Seminartag in der Auswertung schreiben: »Danke! Sie haben mir Mut gemacht (zum Singen)!« Wenn ehemalige Studierende immer wieder Rat suchen. Wenn Entdeckungen zu einem Ablauf, einer Überleitung oder einem liturgischen Baustein Gesprächsthema beim Kirchenkaffee werden.
Ein besonderes inneres Glücksmoment für mich ist, wenn ich mich beim Dirigieren oder Anleiten selbst beobachte und spüre: Wie schön klingt das denn! Und das darf ich miterleben!

Das Gespräch mit Martina Hergt führte Klaus-Martin Bresgott.

Fotos: Kulturbüro des Rates der EKD/Ralf Klöden